Einsam durchschritt der Junge aus Nawa den Hof seiner neuen Schule. Fremd fühlte sich dieser Ort an. Wie so oft fand er sich wieder an einem neuen Platz – ein weiteres Kapitel im ewigen Wechsel.

Sahib bemerkte den Neuankömmling sofort: eigenartige Kleidung, ein ungewohnter Dialekt. Er war schüchtern, ganz anders als Sahib selbst. Sahib war ein Anführer – geboren zum Gefährten. Als der Junge an ihm vorbeilief, musterte Sahib ihn. Sein Gang war vorsichtig, sein Blick wach. Alles an ihm verriet: Dieser Junge ist neu in der Welt.

In der Schule stellte sich heraus, dass der Fremde in Sahibs Klasse kam. Die Sonnen vergingen, die Landschaft veränderte sich. Aus Herbst wurde Winter, aus Winter Frühling. Die Arbeit auf dem Feld wurde härter, der Wind milder.

Sahib arbeitete täglich nach der Schule auf dem Feld seiner Familie – wie alle Jungen und Mädchen, die er kannte. Nur der Junge aus Nawa nicht. Seine Eltern waren Nomaden. Sie lebten an Orten, bis der Ruf sie weitertrieb.

Sahib gefiel der Gedanke immer weniger, Tag für Tag auf dem Feld zu schuften. Fremde Kulturen faszinierten ihn. Irgendetwas in ihm wusste: Auch er trug diesen Ruf in sich.

Eines Tages trafen Sahib und der Junge aus Nawa beim Spielen aufeinander. Die Kinder respektierten Sahib. Er war älter, größer – sein Wort galt. Sogar die Lehrer behandelten ihn mit Achtung.

Doch der Junge aus Nawa ignorierte das. Er spielte mit – und besiegte Sahib. Das war noch nie geschehen.

Stille. Alle warteten: Wie würde Sahib reagieren?

Nach dem Unterricht bildete sich eine Traube um die beiden. Die Luft war gespannt. Sahib spürte die Erwartung – die unsichtbaren Gesetze des Hofes forderten Vergeltung.

Er mochte keine Gewalt. Und doch schlug er zu. Einmal, zweimal, dreimal. Der Junge aus Nawa fiel zu Boden. Blut. Stille. Kein Wort.

Sahibs Hand pochte. Der Junge blieb liegen, hielt sich das Gesicht. Die Menge löste sich. Das Gesetz war wiederhergestellt. Sahib trat vor, reichte dem Jungen die Hand.

Ohne Worte, aber in seinen Augen stand:
„Es tut mir leid. Die Rolle verlangt es von mir.“
Und in den Augen des Jungen:
„Ich verstehe. Es ist, wie es ist.“

Sie gingen gemeinsam heim.
Der eine ins Zelt seiner Familie,
der andere aufs Feld.
Sie sprachen kein Wort –
doch beide dachten an das Leben des Anderen.

Der eine müde vom Reisen.
Der andere müde von der Eintönigkeit.


Jahre vergingen.

Sahib wurde ein angesehener Mann. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters, bestellte die größten Felder der Stadt. Er übernahm Verantwortung, heiratete, bekam Kinder – die nach der Schule auf dem Feld halfen.

Der Junge aus Nawa wurde ein Nomade wie seine Eltern. Er durchstreifte Länder, begegnete Kulturen, vergaß viele ihrer Namen. Auch er heiratete. Seine Tochter und sein Sohn reisten mit ihm.

Dann trafen sie sich wieder. In jener Stadt, in der sie einst Kinder waren.

Sie sprachen kein Wort – doch ihre Blicke sagten alles. Sie sahen einander. Tief.

Ein paar Tage später, während des großen Festes der Stadt, begegneten sie sich erneut. Sahibs Frau und Kinder verschwanden in der Menge. Der Mann aus Nawa trat zu ihm.

Sahib blickte ihn an. Seine Stimme war klar, ruhig, fest:

»Mein Leben lang wollte ich so sein wie du.
Frei wie ein Vogel.
Wild wie der Wind.
Nicht gebunden an einen Ort. Und nun sieh mich an:
Ich bin ein Mann von Bedeutung.
Frei von Wehklagen – außer eben dieser.
Ich frage mich, wie es ist, nicht gebunden zu sein.«

Keine Wehmut lag in seiner Stimme. Kein Neid. Nur Wahrheit.

Der Mann aus Nawa erwiderte:

»Mein Leben lang wollte ich so sein wie du.
Verbunden mit einem Ort.
Ohne die Qual des ewigen Reisens. Und nun sieh mich an:
Ich bin ein Mann von Bedeutung für unsere Karawane.
Auch ich bin frei von Wehklagen –
außer eben dieser.
Ich frage mich, wie es ist, fest verankert zu sein.«

Ein Moment tiefer Stille zwischen ihnen. Zwei Männer, zwei Spiegel.

Sahib sprach: »So ist es wohl – dass wir oft das begehren, was im Leben des Anderen leuchtet. Und dabei blind sind für die Schönheit des Eigenen.«

Er lächelte sanft.

Der Mann aus Nawa griff in seine Tasche.

»Ich habe etwas für dich.
Es wurde mir von einem Bettler überreicht. Ich hielt ihn zunächst für einen Schmarotzer, doch seine Augen sagten: Er trägt den Ruf in sich. Und ich wusste,
ich werde es eines Tages weitergeben – an jemanden, für den es ebenso bestimmt ist.«

Er übergab Sahib eine Rolle feinstes Papiers.
Sahib öffnete sie. Und begann zu lesen.

Gleich welches Leben dich findet –
es dient nur einem Zweck:
der Erinnerung.

Der süßen, stillen, unerklärlichen Erinnerung
an das, was du nie verloren hast.

Sie ruft dich,
leise zuerst,
dann dringlicher –
bis du innehältst.

Nicht das Leben ist das Problem.
Sondern das Vergessen.

Das Spiel, in das du hineingeboren wurdest,
fordert dich unaufhörlich.
Es gibt dir Rollen, Ziele, Illusionen.
Und doch – es ist nur ein Spiel.

Ein schönes, grausames, betörendes Spiel.
Eines, das dich alles kostet,
und am Ende nichts zurückgibt –
außer einem Lächeln,
wenn du erkennst,
dass du selbst das Spiel bist.

Die Lösung?
Nicht gewinnen.
Nicht besser spielen.
Sondern aussteigen.
Hinschauen.
Loslassen.

Nur die Wenigsten wagen es.
Denn was folgt, ist nicht der Ruhm,
nicht das Gold,
nicht die Liebe der Welt –
sondern Stille.
Die Stille des ewigen Jetzt.

Und diese Stille
zerreißt jedes falsche Ich.

Der Mensch kennt seinen Ausgang,
doch nicht seinen Eingang.
Nur wer den Ausgang versteht,
begreift,
dass er niemals eingetreten ist.

Begehrst du das Leben eines Anderen,
seine Frau, seinen Besitz, seine Wege –
dann hast du dich selbst vergessen.

Frei wirst du,
wenn du erkennst,
worum es wirklich geht:

Die Erinnerung.
An das, was du bist.
Jenseits aller Formen.

Wer bereit ist, wird erkennen.
Wer nicht, wird vergleichen.

Der Ruf kommt nicht laut.
Doch er ist da.
Und wenn du ihn hörst –
wird nichts mehr sein wie zuvor.

Dann endet das Spiel.
Und du beginnst.

Sahib las den Text zweimal. Langsam. Wort für Wort. Etwas in ihm wurde still.
Etwas in ihm wurde wach. Er blickte auf. Der Mann aus Nawa sah ihn ruhig an – sprach dann die Worte, die in ihm klangen wie ein Echo:

»Du wurdest nicht geboren, um perfekt zu funktionieren.
Du bist nicht hier, um eine Rolle gut zu spielen.
Du bist hier,
um dich zu erinnern.

Nicht an dein Name,
deine Geschichte,
deine Ziele –
sondern an das,
was vor all dem war.

An das,
was bleibt,
wenn alles andere fällt.

Es braucht keine weitere Version von dir.
Kein Upgrade, keine Optimierung,
keine spirituelle Meisterschaft.

Was es braucht,
ist das Ende.

Das Ende deiner Vorstellung von dir.
Das Ende deiner Suche.
Das Ende deiner Identifikation mit dem,
was du nie warst.«

Sahib begriff.

Es ging nie darum, das Leben eines Anderen zu begehren. Es ging um die Einsicht, dass alles, was im Außen erscheint, ein Spiegel des Inneren ist. Sie hätten beide das Leben des Anderen leben können – und wären am gleichen Punkt gelandet.

Der Mann aus Nawa und Sahib wurden Brüder der Erkenntnis.
Getrennt aufgewachsen – doch geeint im Erwachen. Sie erkannten:
Es ist ein großes Spiel, und jeder spielt darin eine Rolle.

Doch wenn man sich im Anderen erkennt, endet das Spiel.
Und etwas beginnt, das nicht benannt werden kann.

FIN