»Ich brauche eine Flasche Whiskey«, sagte sich Karl. Er ließ sich in den Sessel seines Vaters fallen, jenem, auf dem dieser die strittigen Fälle seiner englischen Auftraggeber als Anwalt vorbereitete.

Seitdem er das Herrenhaus seiner Eltern geerbt und das Arbeitszimmer bezogen hatte, verbrachte er mehr Zeit in diesem Raum des Hauses, als in jedem anderen.

Am Abend war er nach diesem vollkommen absonderlichen Tag nach Hause gekommen, hatte zu Abend gegessen und sich dann, entgegen seines ersten Entschlusses, doch noch an das Material des Mannes aus dem Orient gesetzt.

Was ein Fehler war, der ihn nun den Schlaf kostete…

Karl selbst glaubte an Gott, so wie man nun mal an Gott, den Schöpfer, glaubte. Er war nie sonderlich religiös, ließ sich jedoch jeden Sonntag in der Kirche blicken. Musste er schließlich — er war ein Mann von hohem Ansehen. Persönlich wusste er nicht, wie er zu Gott stehen sollte. Karl war bodenständig, glaubte an das, was man mit den Händen sehen und in eine Schreibmaschine tippen konnte. Gerne wäre er ein Ernest Hemingway gewesen oder ein J. R. R. Tolkien und würde mit großer Muße ganze Phantasiewelten erschaffen. Das war er aber nicht. Er wusste, er war ein Mann fürs Tatsächliche. Wirtschaft zum Beispiel.

Was der Mann aus dem Orient ihm hier übermittelte, schockierte ihn. Es war nicht einmal das Material an sich, sondern viel mehr das, was es mit ihm machte. Er begann mit jeder Stunde seine Existenz etwas mehr zu hinterfragen. Der Mann aus dem Orient schrieb von metaphysischen Konzepten, von Experimenten der alten Alchimisten, die Gegenstände verwandelt und sich schließlich transformiert haben. Von bewusstseinsverändernden Substanzen und Wahrnehmungen von anderen Welten. Von Traumreisen und dass die Menschheit ein großer Traum ist. Nicht mehr. Nicht weniger.

Nicht nur das: Er konnte nahezu jedes Wort belegen. Mit einem Bericht etwa von einem Zeitzeugen. Oder abgeleitet aus einer alten, längst vergangenen Schrift, die zum Teil unter Geheimhaltung stand. Das Material, welches er in Händen hielt, zerstückelte Karls Leben mit jeder Seite. Freilich, er könnte nun alles ignorieren, die Klarstellung in der Zeitung morgen würde alles ins rechte Licht rücken und der Mann aus dem Orient versprach ihm, mit niemandem anderen zu reden. Karl glaubte ihm. Und genau das löste nun eine gehörige Portion schlechtes Gewissen in ihm aus.

Karl wusste, er war die einzige Chance, dass der Mann aus dem Orient noch einige weitere Sonnenaufgänge des Ostens würde erleben können. Im Material ging es unter anderem um die Frage nach dem großen Ganzen. Nach dem Warum. Danach, wer die Menschheit und die Welt(en) schuf. Im Gegensatz zur gängigen Geschichte — zur Bibelgeschichte — erzählte der Mann aus dem Orient, dass jeder Mensch ein Teil Gottes sei.

Und nicht nur das, er stellte eine Frage, die Karl endgültig die Sprache verschlug. Hatte er dies gerade richtig gelesen? War dieser Mann derart verrückt, dass er unter Wahnvorstellungen litt? Drogeneinfluss? Alkohol? Wie sonst sollte man eine derartige Behauptung in die Welt stellen? Eine solche Frage fragt man nicht. Zumindest nicht, wenn einem sein Leben lieb ist.

Der Alchemist aus dem Osten fragte:

»Was wäre, wenn Gott selbst nicht wisse, wer er ist? Wir meinen, Gott sei allmächtig, allwissend. Wir meinen, eine getrennte Entität von ihm zu sein. Getrennt. Uns wird erklärt, wir bräuchten Prediger und eine Kirche, um uns seiner Gnade sicher zu sein. Gott ist alles. Gott weiß alles. Doch was ist, wenn Gott sich in unzählige Teile zerschmettert hat, weil er herausfinden wollte, wer er selbst in Wahrheit ist? Was würde dies für die Welt bedeuten? Was für mich? Für meine Nächsten?«

Und weiter, in späteren Auszügen:

»Ich habe keine Zweifel mehr; Gott ist nicht getrennt von uns. Ich bin Gott. Genauso wie meine Nächsten es sind. Die Blume, die sich im Wind bewegt, bin ich. Der Fluss, der durch das Tal fließt, bin ich. Alles ist im Fluss, nichts wird kontrolliert. Nur der Mensch kontrolliert. Und wer ist als Einziger unglücklich im Garten Eden? Kann eine Blume unglücklich sein? Kennt ein Eichhörnchen Unglück? Denkt ein Kamel über seinen Schöpfer nach? Der Mensch ist ein im Unglück behaftetes Wesen voll Torheit und Gleichgültigkeit. Ich frage mich, wie dieses Wissen verloren gehen konnte, und komme auf nur eine Antwort: Macht. Diejenigen, die wissen, sind mächtig. »Diejenigen, die vergessen, ihre Sklaven.«

Karl wippte in seinem alten Bürostuhl an seinem mahagonigedeckten Schreibtisch hin und her. Immer unruhiger trank er einen Whiskey nach dem anderen. Obwohl er kein Trinker war. Seine Hände zitterten. Ihm war speiübel. Nachdem er seine Lektüre beendet hatte, musste er an die frische Luft. Mitten in der Nacht, im kalten England nach 03:00 Uhr, hatte er alles gelesen und war fertig mit der Welt.

Er wusste, würde er auch nur einen Auszug davon veröffentlichen, wäre er nicht nur Hohn und Spott ausgesetzt. Womöglich wäre sein Leben in Gefahr. Und dass seiner Familie. Nach einem ausgiebigen Spaziergang über sein üppiges Land, einer Rast an seiner Lieblingsbank und der Stille und klirrenden Kälte der Nacht wusste Karl, was zu tun war.

Gleich als er zuhause war, schürte er den Ofen an. Das Material vom Mann aus dem Orient musste vernichtet werden, es ging nicht anders. Er selbst würde alles, was er gelesen hatte, irgendwann wieder vergessen. Schon nachher in der Redaktion hätte er sein altes Leben wieder und könnte alles vergessen, was er in den letzten Stunden über Gott, das Leben und sein Schicksal gelesen hatte.


Zwischenzeitlich war es fünf Uhr morgens, als es an der Tür klopfte. Karl war sich zunächst nicht sicher, doch dann klopfte es erneut. In größter Eile sprang er aus dem Arbeitszimmer zur Eingangstür des Hauses, ehe seine Hausangestellten geweckt würden und er womöglich in Erklärungsnöte käme.

Als er die Tür öffnete, wurde er beinahe ohnmächtig.

Wie konnte das sein… Es war unmöglich.

Vor ihm stand der Mann aus dem Orient.

Karl war vollkommen perplex. Wie konnte das möglich sein? Er ließ den Mann in sein Haus, in dem seine Familie noch schlief und er gerade im Begriff war, das Lebenswerk des Mannes zu vernichten, der eigentlich in einer Gefängniszelle schmoren müsste.

»Dachtet ihr, das, was im Material steht, seien nur Gedanken eines Spinners? Eines Irren?«, fragte ihn der Mann aus dem Orient geradewegs, als er sich in Karls Besucherstuhl an seinem Schreibtisch niederließ.

»Wie in aller Welt kommt Ihr hierher? Wer hat Euch aus dem Gefängnis entlassen?«, fragte Karl.

»Ich war dies, Karl«, sagte der Mann aus dem Orient mit einem wissenden Blick.

»Seid Ihr etwa auf der Flucht?! Ihr seid doch nicht ausgebrochen, oder? Ich will damit nichts zu tun haben. Besser, Ihr verlasst nun mein Haus. Hier ist Ihr gesamtes Material. Ich werde damit nichts anstellen und vergessen, welche törichten Schlussfolgerungen Ihr über Gott und das Leben darin anstellt«. Karl überreichte ihm hastig seine Notizen. »Und nun verlasst mein Haus«.

»Seid nicht so voreilig, Karl. Wenn ihr meine Erklärung anhört, erlebt Ihr einen Beweis dafür, was ich in meinen Aufzeichnungen erkläre. Ich bin nicht geflohen. Für Euch besteht kein Grund zur Sorge. Alles, was ich möchte, ist mich mit Euch zu unterhalten«.

Ohne eine Reaktion von Karl abzuwarten, fuhr der Mann aus dem Orient fort:

»Die Welt, wie Ihr sie kennt, ist garantiert nicht mehr dieselbe, habe ich nicht recht? Sie ist aus den Fugen geraten, Karl. Ich erzähle Euch nun die Geschichte, wie ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wir verfügen über eine grenzenlose Vorstellungskraft. Das Wort „Kraft" in „Vorstellungskraft“ ist entscheidend. Die Menschen haben keine Ahnung davon, wer sie in Wahrheit sind. Es heißt, der Glaube versetzt Berge. Und doch missversteht die Menschheit dies. Die Kirche ist dafür verantwortlich, dass die Menschen sich nicht erkennen. Wir benötigen keinen Dienstherren, der uns zum Herrn führt. Wir benötigen dafür lediglich einen Badezimmerspiegel.

Der Satz: „Der Glaube versetzt Berge“ bezieht sich auf die Vorstellungskraft und die Dinge, an die wir tief in uns selbst glauben. Ich habe mich aus dem Gefängnis befreit, indem ich den klaren Entschluss gefasst habe, entlassen zu werden. Ich nutzte meine Vorstellungskräfte und es geschah das, was für Euch einem Wunder gleicht. Ein Wärter kam, riss mich aus dem Schlaf und sagte, ich solle mit ihm gehen. Der Direktor zitierte mich zu sich ins Büro. Er sagte mir, dass meine Verhaftung auf einem Gesetz basiere, das strittig sei, und der Bürgermeister ihn aufgerufen habe, mich zu entlassen. In Nordengland gab es wohl eine Meuterei deswegen, und damit nicht dasselbe im feinen London geschehe, solle der Lump, der die Kirche verraten hatte, lieber in der Gosse verrotten, als in einer Gefängniszelle.

Und so, lieber Karl, sitze ich Euch nun gegenüber. Man kann von einem Zufall sprechen, ja, von einem Wunder. Aber diese Art Wunder sucht mich schon seit langer Zeit heim, Karl. Seitdem ich herausfand, wer ich in Wahrheit bin«.

Karl lauschte aufmerksam. Er entspannte sich vorhin, als der Mann sagte, er sei nicht geflohen und für Karl und seine Familie drohe kein Ungemach. Karl war im Umgang mit Lügnern sehr erfahren. Sein Beruf bei der Zeitung brachte ihn mit allerhand Menschen in Verbindung, für die Lügen Teil ihrer Existenz sind. Politiker, Geschäftsleute, gar mancher Verbrecher vor seiner Verurteilung. Die Ruhe, mit der der Mann aus dem Orient sprach, seine Überzeugung, sein gesamtes Auftreten — Karls innerer Lügendetektor wollte einfach nicht anspringen. So sehr er es sich gewünscht hatte. Denn dann hätte er alles als Lüge abstempeln können und mit seinem gewohnten Leben fortfahren. Jetzt musste er sich mit den Themen des Mannes aus dem Orient auseinandersetzen. Dieser war vielleicht verrückt, ein Spinner, exzentrisch allemal. Aber er war verdammt nochmal kein Lügner, das spürte Karl.

»Für einen Moment angenommen, ich würde Euch glauben. Weshalb habt Ihr dann nicht Eure Verhaftung verhindert und habt es so weit kommen lassen? Und weswegen wart Ihr im Gefängnis sicher, dass Ihr mit Eurem Tode einverstanden seid? Ihr saht aus wie ein Mann, der mit dem Leben abgeschlossen hat, als ich Euch verließ«, wollte Karl wissen.

»Ganz der Journalist, stellt Ihr die richtigen Fragen, Karl. Ich sah darin meine einzige Gelegenheit, Eure Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wusste von einem Jungen, den ich vor langer vergangener Zeit vor Eurer Redaktion sah, dass ihr Journalisten Euch jeden Morgen die Zeitungen der Konkurrenz kauft. Ich wusste, wenn ich Eure Aufmerksamkeit erregen möchte, muss eine der Zeitungen über mich berichten. Also führte mich das Schicksal zu diesem radikalen Gläubigen, dessen Aufschrei laut genug war, um genügend Aufmerksamkeit zu erregen. Wäre ich nach all den Jahren einfach vor Eurer Tür gestanden, Ihr hättet mich hochkant herausgeworfen. Dessen war ich mir sicher. Und Karl, ich bin jederzeit mit dem Tod vertraut. Ich rechne jederzeit damit, dass er kommt. Auch wenn, wie Ihr nun wisst, der Tod nicht wirklich stattfindet. Er ist eine Illusion. Etwas, das geschaffen wurde, um die Gottesteile davon abzuhalten, sich zu erkennen. Der Tod bereitet mir keine Furcht. Das, was ich am meisten fürchte, ist die Unwissenheit der Menschheit. Und genau deswegen bin ich hier, Karl. Sie müssen der Welt reinen Wein einschenken. Sie müssen wissen lassen, wer die Menschen in Wahrheit sind. Sie sind angesehener Journalist, Karl. Die Menschen werden Ihnen glauben«.

Karl schüttelte den Kopf. Er erzürnte innerlich und äußerlich. »Wisst Ihr, was Ihr da von Euch gebt? Selbst wenn dies, was Ihr beschreibt, wahr wäre, würde mein Kopf durch London rollen. Niemand ist darauf vorbereitet. Die Kirche würde mich jagen, mein Haus würde brennen. Meine Familie würden sie hinrichten. Was Ihr verlangt, ist bloßer Wahn. Niemand wird Euch oder mir glauben. Ich tue es ja selbst nicht. Mag sein, dass Ihr es durch einen Zufall geschafft habt, aus dem Gefängnis zu kommen. Und ich muss zugeben, Euer Material ist erstklassig recherchiert und belegt. Aber wir kommen aus dem Zeitalter der Hexerei, der Wunderheiler. London und die Welt sind froh, wenn sie von derartigen Dingen nichts mehr hören müssen«.

»Die Welt, Karl, existiert nur in Ihrem Kopf. Ich verstehe Eure Bedenken — und lasst mich eines klarstellen: Nicht Euer Name prangt unter dem Material, das Ihr veröffentlicht. Es wird ein anderer sein. Was ich Euch vorschlage, führt Euch zu noch mehr Ruhm, Einfluss und Geld. Jemand schreibt Euch an, meldet sich im Vertrauen. Ihr versprecht, seinen Namen niemals preiszugeben und das Material zu veröffentlichen. Landesweit wird über Euren Mut berichtet werden und dass ihr die erste Zeitung wart, die es veröffentlichte. Die anderen werden folgen. Karl, wie Ihr sagtet, das Material ist kein Hirngespinst. Ich kann belegen, über was ich spreche«.

»Was meintet Ihr eben, als Ihr sagtet, die Welt existiere nur in meinem Kopf?«, fragte Karl, noch im Begriff zu verarbeiten, was der Mann aus dem Orient ihm da vorschlug.

»Nun, die Welt, wie ihr sie wahrnehmt, Karl, existiert nicht. Eure geliebte Zeitung existiert nicht. Das Haus, in dem Ihr wohnt, existiert nicht. Ich existiere nicht. All das hier ist ein Spiel. Eine Illusion. Die alten Weisen wussten darum. Ihnen war klar, dass Himmel und Hölle keine Orte sind. Die Menschen sind so dumm, Karl. Sie werden dumm gehalten wie Schafe. Himmel und Hölle sind Bewusstsein. Und je nachdem, in welcher Verfassung sich ein Mensch befindet, erlebt er Himmel oder Hölle. Die Welt erlebt gerade ein gewaltiges Spiel der Hölle, wobei sie im Grunde nicht existiert, die Welt, Karl«.

Für Karl war diese Antwort unbefriedigend. Sein analytischer Verstand plagte sich, aber irgendwas in ihm, ein Ort, den er in sich trug, erwachte zunehmend. Er konnte es nicht beschreiben, nicht mal er, der Journalist, konnte Worte dafür finden.

»Wie stellt Ihr Euch das mit der Veröffentlichung vor? Selbst wenn wir dies täten, wie Ihr sagtet, was ein Risiko ist, denn jeder, über den wir berichten, muss bekannt sein. Wir drucken keine anonymen Dinge. Der Harold ist eine anständige Zeitung, und solange ich die Verantwortung trage, wird sie dies auch bleiben«, sagte Karl.

»Karl, manchmal muss man von seinen Prinzipien abweichen. Für das Gute, für die Erkenntnis, für die Wahrheit. Ich bin offen zu Ihnen, Karl. Die allermeisten Menschen werden es nicht verstehen. Es wird eine spannende Geschichte sein. Sie werden sich das Maul zerreißen über die Vorwürfe, aber sie werden nichts ändern. Die Kirche wird eine Klarstellung veröffentlichen und ihre Schafe wieder auf die Weide der Ahnungslosigkeit führen. Aber es wird einige geben — und in den Jahrzehnten, die folgen, werden dies immer mehr — die verstehen. Es sind die Unverstandenen. Es sind die, die sich niemals in dieser Gesellschaft wohlfühlten. Die Aussätzigen und Außenseiter. Sie werden wissen, worüber wir sprechen. Ich weiß, dass es andere wie uns gibt, Karl. Andere, von sehr weit her…«, sagte der Mann aus dem Orient und blickte Karl dabei tief in die Augen.

Von sehr weit her…

Andere wie uns…

Karl dämmerte etwas. Etwas, das er nicht erklären konnte.

Plötzlich fiel er in seinen Stuhl zurück. In der Mitte seiner Stirn, direkt zwischen seinen Augen, war es, als riss jemand seine Augen auseinander. Es war wie ein Portal. Wie ein drittes Auge, das ihm gerade wuchs.

Und dann sah er es.

Seine Andersartigkeit.

Spürte seinen anderen Körper.

Fühlte sich so leicht wie nie.

Wollte dort, wo er gerade war, nie wieder weg.

Und er verstand.

Es war, als erhielt er eine gewaltige Lawine an Informationen. Ein ganzer Ozean an Wissen. Alles, aus dem Material des Mannes aus dem Orient, machte Sinn. Er verstand jedes einzelne Wort.

Und er wusste, dass er den Mann aus dem Orient von dort kannte. Spürte ihre Freundschaft und Verbundenheit. Wog in der Liebe und Leichtigkeit ihrer Verbindung und dem Sein an diesem andersartigen Ort, der aussah wie die Erde, aber nicht die Erde war.

Hinabgestiegen in das Reich der Toten.

Auferstanden in den Himmel.

Karl verstand. Er selbst war abgestiegen in das Reich der Toten und kam aus dem Himmel. Alles war in ihm. Himmel und Hölle: keine Orte, sondern Wahrnehmungen.

Als Karl erwachte, lächelte der Mann aus dem Orient ihn sanft an. Karl war vollkommen neben sich. Er brauchte einige Momente, um wieder voll hier anzukommen. Am Schreibtisch seines Vaters. Dem Anwalt. Dessen Haus er bewohnte in London, wo er bei der Zeitung arbeitete.

»Nun Karl, wie ich sehe, habt ihr gesehen«, sagte der Mann aus dem Orient zu ihm.

»Ich… ich… habe Euch erkannt. Und diesen fremden Ort. Wie… wie ist das möglich?«, Karl versank in seinem Stuhl. Einige Momente sagte niemand etwas. Das Ticken der Wanduhr war das einzige Geräusch in dem großen Herrenhaus, in dem Karl aus dem Tiefschlaf des Menschseins erwachte. Das Leben, wie er es kannte, war vorbei, das spürte er.

Der Mann aus dem Orient erhob sich, sah Karl noch einmal lange in die Augen und packte ihn. Zog ihn zu sich herüber, nahm ihn in den Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Alles wird gut, Bruder. Ich lasse Euch jetzt alleine. Wir sehen uns bald wieder. Versucht, so normal zu sein, wie es Euch möglich ist. Erscheint zur Arbeit. Lasst Euch nichts anmerken. Unternehmt nichts ohne mich. Die Zeit wird reif sein und ich werde wieder da sein. Lasset ein Licht im Arbeitszimmer brennen, damit ich weiß, wann ihr wach seid und wir ungestört sprechen können«. Mit diesen Worten verließ der Mann aus dem Orient geräuschlos den Raum und das Haus.

Karl stand minutenlang im Zimmer, überhörte seinen zwischenzeitlich erwachten Butler, der nun neben ihm stand und sich erkundigte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. »Ja, ja. Mir geht es gut. Bitte bringt mir noch eine Kanne voll Tee. Ich will die nächsten Stunden ungestört sein«.

Einige Zeit verging. Karl tat sein Bestes, um sich nichts anmerken zu lassen. Es gelang ihm halbwegs, am normalen Leben teilzunehmen. Zum ersten Mal bemerkte er jedoch, wie viel Kraft ihn sein Leben kostete. Wie viel Anstrengung notwendig war, um seinen Alltag zu bestreiten.

Es verging kaum eine Nacht, in der er nicht die verrücktesten Sachen träumte. Er besuchte Orte, die er nicht kannte, die sich jedoch seltsam vertraut anfühlten. Und dann war ihm letzte Nacht, als wäre der Mann aus dem Orient in seinem Traum erschienen. Im Traum selbst, sah er ihn ganz deutlich. Am Morgen konnte er sich nicht mehr wirklich daran erinnern.

An diesem Abend, als alle schon schliefen, stellte er eine Kerze ins Fenster und setzte sich an seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer. Kurze Zeit später, klopfte es sacht an der Tür. Karl war erstaunt, wie der Mann aus dem Orient so schnell wissen konnte, dass er bereit war für ein Gespräch.

Sie saßen die gesamte Nacht zusammen. Sprachen. Karl hatte unendlich viele Fragen. Von Stunde zu Stunde vertraute er dem Mann aus dem Orient mehr. Auch weil er immer wieder in sein Inneres geschleudert wurde und das, was ihm der Fremde sagte, bestätigte. Karl wusste mittlerweile, was er zu tun hatte. Er würde den Artikel — oder besser — eine ganze Artikelserie – drucken. Er würde die richtigen Argumente für den Chefredakteur haben und von einem Anonymen sprechen, der ihm dieses Material zukommen ließ. Mehr konnte Karl nicht machen. Würde der Chefredakteur es ablehnen — wofür es mehr als genug gute Gründe gab –, so müssten sie eine andere Möglichkeit finden.


Zwei Monate später

London und die Welt waren nicht mehr dieselben wie vorher. Karl hatte es geschafft, den Chefredakteur zu überzeugen, die Serie zu drucken. Die Kirche reagierte entsetzt. Man setzte Karl und seinen Chef gehörig unter Druck. Deren einziges Glück war, dass der Herausgeber des Harold ein freiheitsliebender Brite auf den Jungferninseln war, dessen Unterstützung sie sich immer sicher sein konnten. Und er war stinkreich. Nicht so reich und einflussreich wie die Kirche, aber reich genug, um die beiden aus der Schusslinie zu halten. Ihm gefiel es, der Kirche ans Bein zu pinkeln.

Nach der Veröffentlichung erreichten die Redaktion so viele Leserbriefe wie nie zuvor. Menschen erklärten Phänomene, Dinge, die sie wahrnahmen. Sie erzählten von ihrer eigenen Erfahrung und dass sie Zeit ihres Lebens niemals in diese Gesellschaft gepasst hatten. Der Kirche blieb nichts anderes übrig, als so zu tun, als wäre nichts gewesen. Mancher empörte Priester in London griff das Thema auf und seine Gläubigen stimmten ihm zu. Doch Karl und der Mann aus dem Orient hatten etwas erreicht, was zu dieser Zeit schier unmöglich war. Nicht nur, dass sie Bewusstheit unter die Menschen gebracht haben, sie starteten eine ganze Bewegung.

Karl pflegte auf jeden einzelnen Brief zu antworten. Und schon bald würde das erste Treffen der „Andersartigen“ in London stattfinden. Natürlich wussten Karl und der Mann aus dem Orient, dass ihr Unterfangen ein großes Risiko darstellte. Aber sie spürten auch, dass es getan werden musste.

Kurz darauf verkaufte Karl sein Anwesen und zog mit seiner Familie aus London fort. Er kündigte seine Stelle beim Harold und gründete seine eigene Zeitung. Eine, die dafür sorgte, dass Menschen wie der Mann aus dem Orient eine Stimme erhielten. Damit läutete er ein neues Zeitalter ein. Eins, in dem die Blindheit und Torheit, mit der die Menschen kleingehalten wurden, enden. 


Bleibt nur die Frage: Wo ist eigentlich ein Karl in dieser Zeit, wenn man ihn braucht? Wir alle sind Karl. Und wir alle sind der Mann aus dem Orient. Ich kenne viele „Andersartige“ und weiß, wie schön es ist, sich zu verbinden. Wir haben das Spiel lange genug mitgespielt. Was, wenn wir anfangen, uns zu verbinden? Und mehr noch: Was, wenn wir einfach anfangen, wir selbst zu sein? Bedingungslos? Was, wenn wir uns erlauben, dass alles da ist, was ist? Was, wenn das der Weg ist, nach dem man verzweifelt gesucht hat — radikale Selbstannahme? Ich mische hier wie ein Koch verschiedene Zutaten zu einer Mahlzeit, dessen bin ich mir bewusst. Kein Wort stammt aus meinem Verstand. Aber dafür umso mehr aus dem Herzen.

Wir lesen uns bald wieder.

P.S.: Schreibt gerne, ob es von Karl eine Fortsetzung geben soll.