Als Karl, wie jeden Morgen um 09:00 Uhr, die Redaktion betrat, fehlte der Zeitungsjunge, der direkt vor dem Gebäude stand und die Tageszeitungen der anderen Redaktionen verkaufte. Er war gewieft: Er wusste, all die Journalisten würden wissen wollen, was die Konkurrenz druckt, und so verkaufte er an einem einzelnen Morgen, noch ehe er richtig ausgeschlafen hatte, seinen ganzen Bestand. So blieb danach genügend Zeit, um den Tag an der Themse zu verbringen, wenn es denn in diesem verfluchten Land einmal warm genug dafür war. Heute war Luis, so hieß der junge Mann, allerdings nicht da.
Karl stammte eigentlich aus Tschechien, doch sein Vater, ein angesehener Anwalt, fand einen reichen Gutsbesitzer in London und half ihm, seine Geschäfte in Tschechien zu tätigen. Eines Tages stand seine Mutter vor Karl und verkündete, dass schon morgen eine Kutsche kommen, sie ihn auf ein Schiff bringen und er Tschechien verlassen würde.
Sie fuhren zunächst nach Indien, um mit dem Auftraggeber seines Vaters zurück bis in ein fremdes Land mit dem seltsamen Namen England zu reisen. Karl war damals acht Jahre alt und mochte den Gedanken überhaupt nicht, von seinen Freunden weg zu müssen, eine neue Sprache zu erlernen und nie wieder dem freudigen Treiben in ihrem Park beiwohnen zu können, der der Treffpunkt für alle Kinder aus der Nachbarschaft war. Der Vater wollte es aber so.
Er besuchte eine vornehme Londoner Schule und lernte Englisch, und zwar so gut, dass er beschloss, Journalist zu werden. Wenn man sich schon so mit etwas auseinandersetzen muss, dann kann man wenigstens Kapital daraus schlagen. Sein Vater wollte immer, dass er Anwalt werden würde und die Geschäfte mit dem englischen Gutsbesitzer eines Tages die seinen wären. Doch Karl wollte das nicht. Er verliebte sich in eine gefährliche Geliebte, die Schreiberei. Sein Vater respektierte ihn, las er schließlich jeden Morgen das, was sein Sprössling am Vortag selbst verfasst hatte.
Karl arbeitete im Wirtschaftsressort des London Herald und war ein angesehener Schreiberling. Die tägliche Sitzung mit dem Ressortchef begann. Karl ließ sich auf einen der Stühle fallen und breitete seine Schreibmappe auf dem Tisch vor ihm aus. Gleich würde er vortragen, an welchen Storys er gerade arbeitet. Der Ressortchef würde dann entscheiden, welche davon in die nächsten Ausgaben gedruckt würden.
»Guten Morgen, Gentleman. Also, was haben wir? Stuart, was macht Ihre Geschichte über die Verschmelzung des London Heritage Fonds mit den Amerikanern? Hat man je eine solch spannende Geschichte gehört? Es wird das größte verwaltete Vermögen in der Geschichte der Krone«. Stuart antwortete und stellte seinen Ressortleiter zufrieden.
Als Karl an der Reihe war, berichtete er von seiner Geschichte über die Eröffnung eines neuen, ungewöhnlichen Vorhabens. Mehrere Geschäfte sollten in einem großen Gebäude gemeinsam eröffnen. Es sollte dort nicht nur Kleidung und allerhand Nützliches und Unnützes geben, sondern auch Essen und Getränke sollten dargeboten werden. Es war die Geburtsstunde des ersten Kaufhauses in London. Der Ressortchef war verzückt. Karl solle sich direkt nach der Sitzung aufmachen und die Story zu Ende schreiben. Er solle mit den Ladenbesitzern sprechen, sie befragen, wie sie auf diese außergewöhnliche Idee kamen. Und er sollte — so nannte er es — etwas kitzeln. Mögliche Schwachstellen im Plan herausarbeiten, damit der Herold der erste war, der darüber berichten konnte. Schon morgen erwartete sein Chef die Story auf seinem Schreibtisch.
Draußen klackerten die Schreibmaschinen im Schreibraum. Es roch nach Tinte, Zigaretten und kaltem Kaffee. Die einzelnen Redakteure hackten in die Tasten, feilschten um die besten Geschichten und erzählten sich lauthals, welche grandiose Story sie gerade schrieben. Karl mochte diese Stimmung, wenn er auch eher zu den stilleren Schreibern gehörte.
Wie ihm geheißen, packte er seine Ledertasche, verstaute sein Schreibzeug darin — wichtig war immer ein Ersatzstift, das lernte er sehr früh sehr schmerzhaft — und machte sich auf ins nasse London. Eigentlich regnete es hier immer. Karl vermisste die warmen tschechischen Sommer, seinen Park und manches Mal die Leichtigkeit und Einfachheit dieses Lebens in Tschechien. Sein Leben in London gefiel ihm trotzdem ganz gut. Er hatte Freunde, einen guten Job, den er mochte. Ja, sogar eine Frau an seiner Seite, mit der sich etwas anbahnte. Seine Mutter überschüttete ihren einzigen Sohn mit ihrer gesamten Liebe und sein Vater respektierte ihn. Er rief eine Kutsche und gab dem Kutscher die Adresse vom ersten Händler, mit dem er heute Morgen reden wollte. Er würde — wie ein guter Journalist das eben tut — alles durchleuchten und in Erfahrung bringen, um am Nachmittag seine Geschichte zu schreiben und sie dem Ressortchef zu präsentieren. Menschen sind erstaunlich gesprächsbereit, wenn man sie etwas zu ihrem Leben fragt. Vielleicht lag es auch an seinem Beruf, aber Menschen, so fand Karl heraus, sind wie ein offenes Buch, wenn man weiß, wie man fragen muss.
Angekommen beim ersten Händler, einem Taschenhändler, erfuhr er, dass die Eröffnung schon bald geplant sei. Er und sieben weitere Händler hätten die Überlegung angestellt, dass doch, wenn sie alle unterschiedliche Gewerke hätten, die Kunden nicht aufgeteilt werden müssten. Dafür würden die Kunden vielleicht wegen einer Tasche kommen, noch einen Strauß Blumen mitnehmen und am Ende eines dieser schrecklichen englischen Gerichte verputzen. Der Kapitalismus funktionierte zu dieser Zeit und war im Begriff, zur Hochkonjunktur aufzulaufen. Ein weiterer Händler, den er traf, den Blumenhändler, sprach, er sehe großes Potential in ihrem gemeinsamen Vorhaben. Die Menschen würden wegen etwas ganz anderem kommen und am Ende nicht am Duft seiner frischen Blumen vorbeigehen können. Auch alle weiteren Händler, die er heute sprach, waren von größtem Optimismus. Alle erwarteten den großen Reibach.
Und Karl sollte wieder einmal recht behalten. Menschen sind wie offene Bücher, wenn man weiß, wie man sie zum Reden bringt. Es kam heraus, dass die Stadt noch gar keine Genehmigung für das Vorhaben erteilt hat. Die Händler waren so euphorisch, dass sie großen Schrittes voranschritten, doch die Stadt konnte ihnen im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung ziehen.
Als er sich auf einer Parkbank nieder setzte, auf der er ein hastiges Mittagessen zu sich nehmen wollte, sah er vor seinem geistigen Auge bereits die Schlagzeile: Damoklesschwert kreist über mutigem Vorhaben: Wird die Stadt London am Ende die Träume einiger Händler zerstören? Zufrieden biss er in ein aufgeschichtetes Brot mit Salat, allerhand Gemüse und Fleisch, das er mit der Serviette wegnahm und es den Tauben hinwarf. Wenn er alleine war, aß er kein Fleisch. Das tat er nur, wenn er in Gesellschaft war und dies tun musste. Wer würde schon verstehen, wenn er kein Fleisch äße? Er kaute auf dem lustlos belegten Brot, trank von seiner Wasserflasche und schrieb in seinen Notizen für seinen Artikel.
Irgendwie musste er müde geworden und eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, nahm er einen seltsam gekleideten Mann neben sich wahr. Er sah aus, als stamme er aus dem fernen Osten. Ein langes, weißes Gewand umfasste seinen gesamten Körper. Der Mann war vielleicht zehn Jahre älter als er selbst. Er hatte braune Haut und tiefbraune Augen. Wenn Karl es richtig deuten konnte, handelte es sich um einen attraktiven Mann. Sein schwarzes Haar wehte im Wind. Eigentlich war er viel zu kalt angezogen, für den grauen Londoner Nachmittag, an dem sie sich auf dieser Parkbank begegneten.
»Nun, ihr habt ziemlich tief geschlafen. Euer Beruf als Journalist muss wohl ein anstrengender sein«, sagte der Fremde aus dem Orient. Karl räusperte sich. »Woher wisst ihr, dass ich Journalist bin?«, fragte er.
»Ich habe mir erlaubt, Eure Aufzeichnungen vom Boden aufzuheben. Sie sind Euch aus der Hand gefallen. Für Euch ist es ein merkwürdiges Vorhaben, dass unterschiedliche Händler unter einem Dach ihre Dienste feilbieten. »Dort, wo ich herkomme, ist das gang und gäbe«, erzählte der Fremde.
»Und wo genau kommt ihr her?«, wollte Karl wissen.
»Aus dem fernen Osten. Dort, wo die Sonne heiß ist und die Kamele das sind, was für Euch die Kutschen sind«.
»Nun, dann kennt ihr meine Geschichte ja bereits, die morgen in der Zeitung stehen wird. Hat sie Euch wenigstens gefallen?«, fragte Karl den Fremden.
»Ich finde, ihr habt außergewöhnliches Talent«, antwortete dieser. Und weiter: »Was macht ein talentierter Schreiber, wenn er nicht gerade über die Wirtschaftsgeschicke der Stadt berichtet?«.
»Nun, ich pflege, Cricket zu spielen, oder vertreibe mir die Zeit in den Ausstellungen dieser Stadt«, antwortete Karl.
»Ihr verbringt Eure Zeit also keineswegs in den Unterhaltungsetablissements und gebt euch der Schankkunst hin?«, sagte der Fremde mit einem Augenzwinkern.
»Nein. Das Bier in London bekam mir noch nie. Ich lese lieber ein gutes Buch, anstatt mich mit Trunkenbolden abzugeben. Veranstaltet mein Vater allerdings einen seiner legendären Empfänge, so kann ich selten widerstehen. Es sind jedes Mal Feste. Gar jemanden wie Euch aus dem Orient lernte ich kürzlich kennen«, führte Karl aus.
»Nun, dies klingt nach einem anständigen Leben, einem solchen, wie ihr immer erträumt habt?«, wollte der Mann aus dem Orient wissen.
»Wer weiß schon, was sein Herz wirklich begehrt? Dafür ist kein Platz im modernen London. Man wählt einen Beruf mit Anstand. Irgendwann vermählt man sich, setzt Kinder in die Welt. So ist das nun mal«, sagte Karl. Und weiter: »Aber was ist mit Euch? Ihr wisst nun eine ganze Menge über mich. Doch ich weiß rein gar nichts über Euch? Was ist Euer Auftrag in London?«.
»Meine Mutter war dem Schauspiel verfallen. Ihr kanntet sie ganz sicher, jeder in London kannte sie. Das Schauspiel war ihr Leben und da sie irgendwann erkannte, dass sie nicht würde frei sein können mit ihrer Kunst, floh sie nach London. Ich war damals acht Jahre alt. Wir lebten hier, sie fand eine Anstellung in einem der Theater. Als exotische Garderobenfrau. Erst viel später entdeckte man ihr Talent und es ward ein neuer Stern am Himmel Londons geboren«, führte der Fremde aus.
»Ihr seid nicht wie einer von hier gekleidet, mit Verlaub«, sagte Karl verwundert.
»Ich bin keiner von hier und werde es niemals werden. Im Gegensatz zu Euch ist meine Haut zu dunkel, meine Möglichkeiten sind begrenzt. Ich bin meiner Heimatkultur noch immer mehr verbunden als dieser hier. Sobald ich des Reisens reif war, verließ ich meine Mutter und ging heim zu meinem Vater. Er führte mich in die Kunst des Handels ein und seither reise ich um die Welt, um Händler zu treffen«.
»Nun, dann hoffe ich, Sie leben das Leben, das Sie sich immer erträumt haben«, sagte Karl, der sich aufmachte, zurück in die Redaktion zu fahren. Schließlich hatte er noch eine Story zu schreiben und sie seinem Ressortleiter vorzulegen. Die Geschichte war gut und er wollte nicht zu spät in den heiligen Hallen des London Herald ankommen. Er erhob sich und schritt von dannen.
»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fremder aus dem Orient. Übrigens: So werden Euch Eure Freunde sicher nicht nennen. Wie heißt ihr eigentlich?«, fragte Karl zum Abschied.
»Ich habe viele Namen. Manche nennen mich Gott, manche nennen mich Allah. Manche Buddah oder Krishna«, sagte der Mann aus dem Orient.
»Na dann wünsche ich Euch noch einen wunderbaren Nachmittag, oh Herr!« Karl tippte sich auf seine Schiefermütze, nahm seine Tasche und hielt Ausschau nach einer Kutsche.
»Wir werden uns wiedersehen, eines Tages, wenn ihr so weit seid. Bis dahin wünsche ich Euch ein beschauliches Leben«. Nun erhob sich auch der Fremde.
Was für eine merkwürdige Begegnung, dachte sich Karl.
Zurück in der Redaktion verfasste er seinen Artikel, den sein Ressortleiter liebte. Es reichte sogar für einen Ausschnitt auf der Titelseite. Die Brust seines Vaters würde stolz geschwellt sein. Und so war es auch.
Die Jahre vergingen. Karl machte Karriere beim Herold und war zunächst selbst Ressortleiter des Wirtschaftsressorts und später stellvertretender Chefredakteur der Gesamtzeitung. Seine Artikel fanden reißenden Absatz. Nun, als er mehr mit der Organisation als mit dem Schreiben beschäftigt, die Haare auf seinem Kopf dünner, der Bauch dicker und die Nerven weniger wurden, fragte er sich zusehends nach dem Sinn des Lebens. Wieso tat er sich das an? London wurde zusehends kapitalistischer, die Industrialisierung war im vollen Gange. Alles änderte sich rasend schnell. Die Armut stieg an, die Politiker wurden immer korrupter und Karl fragte sich, wo das noch alles enden sollte. Seine Eltern waren mittlerweile verstorben und er lebte im Herrenhaus, in dem er seine Kindheit in einem Außenbezirk von London verbracht hatte. Seine Frau Marybeth und er bekamen zwei Kinder vom Herrn. Ein Mädchen und einen Jungen. Marybeth war streng gläubig. Eine Tatsache, die den jüngeren Karl nicht sonderlich störte, außer, dass sie sich zierte und erst mit ihm schlief, als sie vermählt waren. Er wartete damals nicht lange und kurz nachdem sie zusammenkamen, waren sie auch schon verheiratet. Kurz danach, empfingen sie ihre Tochter.
Eines Morgens, Karl hatte schlecht geschlafen und war schlecht gelaunt deswegen, setzte er sich morgens in sein Arbeitszimmer. Seine Bediensteten legten ihm jeden Morgen die Tageszeitungen von ganz London auf den alten Schreibtisch seines Vaters. Er trank eine Tasse Tee und begann darin zu schmökern. Ohne etwas Bestimmtes zu erwarten, las er sich durch das, was die Schmierfinken der anderen Zeitungen von sich gaben. Plötzlich fiel ihm beinahe die Teetasse aus der Hand. Er las einen Artikel über einen Mann aus dem Orient, der vor kurzem in London verhaftet wurde, weil er behauptete, Gott zu sein. Mehr noch, er solle Gläubige vor einer Kirche abgepasst und versucht haben, ihnen seine These näherzubringen, wonach er selbst und jeder andere Mensch Gott selbst seien.
Karl las den Artikel wieder und wieder. Es bestand kein Zweifel. Es handelte sich um den Mann, der ihm damals auf der Parkbank begegnet ist. Doch das Erstaunlichste kam erst noch: Der Mann verlangte nach ihm, Karl. Im Artikel stand, dass er die Aussage verweigerte, obwohl ihm die Todesstrafe drohte. Gotteslästerung war eine ernste Sache und wer nicht mit genügend Demut erklärte, es handle sich um ein Missverständnis, sollte die ganze Härte der Kirche erfahren. Jedes Jahr rollten mehrere Köpfe durch London deswegen. Der Mann aus dem Orient wollte mit keinem Verteidiger sprechen und keine Stellung zu den Vorwürfen beziehen. Er wollte nur mit einem Karl vom London Herald sprechen.
Dem Mann drohte der sichere Tod. Doch was sollte Karl schon ausrichten können? Warum wollte er sich partout nicht erklären, die Wogen glätten und mit einem Anwalt versuchen, eine Gefängnisstrafe zu erhalten? Würde er es geschickt anstellen, wäre er in fünf bis sechs Jahren wieder auf freiem Fuß. Aktuell riskierte er sein Leben. Karl war ein Mann mit Gewissen. Egal, wie ihm das Leben spielte, er musste mit diesem Verrückten sprechen. Das verlangte auch seine Erziehung von ihm. Dachte der Mann aus dem Orient womöglich, dass Karls Vater ihm beistehen würde? Hatte er erwähnt, dass sein Vater Anwalt war — damals auf der Parkbank bei ihrer ersten, merkwürdigen Unterredung?
Karl fuhr in die Redaktion, um seine morgendliche Sitzung mit all seinen Journalisten abzuhalten. Die Nachricht hatte sich inzwischen zu einem Lauffeuer ausgebreitet und sein Chef zitierte Karl nach der Besprechung ins Büro. Wie er denn zu diesem Mann stehe, wollte dieser wissen. Und ob Karl eine Ahnung davon habe, welcher Schaden dem Herold entstehen kann, wenn der stellvertretende Chefredakteur als Freund von einem Gotteslästerer bekannt würde. Karl erklärte, so ruhig er nur konnte, von der einen Begegnung vor Jahren und dass er den Mann danach nie wieder gesehen hatte. Sein Chef befahl ihm, dass er direkt ins Gefängnis fahren und mit diesem Wahnsinnigen reden solle. Hoffentlich hat kein anderer Journalist zwischenzeitlich die Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Der Herold würde gleich morgen eine Klarstellung drucken, dass es sich um ein Missverständnis handele und Karl den Mann überhaupt nicht kannte.
Im Gefängnis angekommen wurde Karl durch diverse Sicherheitsschleusen gebracht. Er solle in einem vergitterten Warteraum auf den Häftling warten. Als er dem Mann gegenüber saß, den er vor Jahren auf der Parkbank zum ersten Mal gesehen hatte, bemerkte Karl, dass er kaum gealtert war. Im Gegensatz zu ihm selbst.
»Haben Sie eigentlich die leiseste Ahnung davon, in welche Schwierigkeiten Sie mich bringen mit Ihrer unsinnigen Aktion?«. Karl war wütend wie selten im Leben.
»Es tut mir aufrichtig leid, wenn ich Ihnen persönliche Umstände bereite. Aber das hier ist zu wichtig, um sich mit Eitelkeiten aufzuhalten«, sagte der Mann aus dem Orient, als er gerade Platz nahm.
»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht, meinen Namen und den des Herold da mit reinzuziehen?!«, sagte Karl.
»Nun, die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen. Wissen Sie, Karl, ich habe eine lange Reise hinter mir und bin müde davon geworden, in der Torheit der Menschen leben zu müssen. Ich habe lediglich an einem Gottesdienst teilgenommen und kam ins Gespräch mit einem Gläubigen. Wir redeten lange und intensiv über Gott und seine Herrlichkeit. Da dachte ich, ich könne ihm einen kleinen Hinweis darauf geben, dass es in Wahrheit keine Kirche braucht und er sich selbst hätte anbeten können. So ist es nämlich, Karl. Ich habe es Ihnen damals auf der Parkbank gesagt und ich sage es Ihnen wieder: Ich bin Gott. Sie sind Gott. Alle hier Anwesenden sind Gott. Es gibt nur den einen. Es gab nie jemand anderen. Als ich dies erwähnte, schrie der Mann auf, beschimpfte mich als Gotteslästerer und machte andere Gläubige aufmerksam. Wie die Geschichte für mich ausging, sehen Sie nun hier«, führte der Mann aus dem Orient aus.
»Nicht ganz! Wie in aller Welt kommen Sie darauf, mich zu verlangen, anstatt kleinlaut und mit Hilfe eines Rechtsanwaltes zu behaupten, alles sei ein Missverständnis? Wie Bitteschön, werde ich Ihnen helfen können?«, wollte Karl wissen.
»Sie haben einen großen Auftrag, Karl. Sie wissen es vielleicht noch nicht. Aber ich habe Beweise dafür, dass wir alle Gott sind. Mehr noch: Ich kann den Sinn des Lebens erklären und den Menschen neue Hoffnung machen. Ich habe lange genug auf diesen Augenblick gewartet, Karl. Was mit meinem persönlichen Schicksal ist, interessiert mich nicht. Sie sind heute hier, um meine Aufzeichnungen entgegenzunehmen. Sie liegen an der Pforte für Sie bereit. Dort finden sie alles, was ich mein Leben lang in meinen Unterredungen mit Gott aufgezeichnet habe — bis ich verstand, dass ich eine Unterredung mit mir selbst führe. Dieses Material, Karl, es wird die Welt für immer verändern. Ich bitte Sie, es sich wenigstens anzusehen. Sie verfügen über das Talent, Wahrheit von Torheit zu unterscheiden. Ich wusste dies, als ich Ihnen damals im Park begegnete. Ihr Herz ist rein, Karl. Und für die Veröffentlichung dieses Materials braucht es einen Mann wie Sie, Karl. Ich werde sterben. Dessen bin ich mir bewusst. Und es macht mir nichts aus, meinen Kopf durch London rollen zu sehen. Was mir etwas ausmachen würde, wäre, wenn die Wahrheit nie ans Licht kommen würde, Karl. Ich kann doch auf Sie zählen?«.
Karl brauchte einen Moment, um alles zu erfassen. Sagte dieser Verrückte gerade, er hätte Aufzeichnungen, die beweisen, dass alle Menschen Gott sind und dass er, Karl, der Richtige wäre, um sie zu veröffentlichen? Wie kommt er nur darauf, dass er seine Karriere aufs Spiel setzen würde, nur um den Hirngespinsten eines Wahnsinnigen zu folgen?
Selbiges sagte er dem Mann aus dem Orient dann auch. Und ob er nicht wisse, wie dies alles klingt. Ob er Karl für einen verfluchten Idioten hielt, der sein Leben einfach so wegen der Hirngespinste eines Wahnsinnigen wegwarf. Dass er sich gefälligst einen vernünftigen Anwalt suchen solle und ihn da raushalten.
Der Mann aus dem Orient ließ all dies an sich abprallen. Erstaunlicherweise machte ihm das alles nichts aus. Er saß nur da, hörte zu und verzog keine Miene.
Karl schäumte vor Wut. Aber da war auch etwas, was er einfach nicht von der Hand weisen konnte. Etwas in ihm, das er nicht erklären konnte — vielleicht am ehesten noch mit seiner journalistischen Neugier und der Suche nach der nächsten Story, die den Herold groß rausbrachte. Karl malte sich aus, wie er durch dieses Material und ihr Gespräch im Gefängnis eine exklusive Story würde veröffentlichen können, die Einsicht in den Wahn dieses Mannes gab. Kein anderes Blatt wäre in der Lage, eine ähnliche Story zu veröffentlichen. Aber Karl hatte eine Bedingung, bevor er sich bereit erklären würde, die Aufzeichnungen des Mannes entgegenzunehmen und zu studieren.
»Angenommen, ich würde mich bereit erklären, Ihre Aufzeichnungen anzusehen. Meine Bedingung dafür lautet, dass Sie mit keinem anderen Menschen darüber sprechen. Schon gar nicht mit einem Journalisten einer Zeitung oder sonstwem, der schon einmal eine Schreibmaschine bedient hat, ist das klar?«, sagte Karl in schroffem Ton.
Der Mann aus dem Orient lächelte und nickte sanft.
»Karl, dies hier sind womöglich die letzten Worte, die ich sprechen werde. Ich werde mich nicht verteidigen. Das Gericht wird mich zum Tode verurteilen. Und ich werde mit niemandem über die Geschehnisse sprechen. Darauf haben Sie mein Wort und auf das Wort eines Mannes aus dem Orient ist Verlass«.
Karl überlegte noch einen Moment, ehe der Wärter, ein finster dreinblickender, untersetzter Mann, kam und ihm darauf hinwies, dass die Besuchszeit zu Ende sei.
»Also gut. Ich wünsche Ihnen das Beste«, sagte Karl zum Abschied. Er wandte sich ab, der Mann aus dem Orient wurde abgeführt und es war das letzte Mal, dass er ihn auf dieser Welt sah.
An der Pforte sagte er der jungen Dame, auf seinen Namen seien das persönliche Hab und Gut des Mannes aus dem Orient hinterlegt. Sie holte verschiedene Gegenstände, darunter einen alten, goldverzierten Dolch, osmanisch aussehendes Geld und besagte Notizen in vier schweren, großen Notizbüchern. Er nahm alles entgegen und verließ das Gefängnis. Aber nicht als freier Mann, das wusste er zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht. Ab sofort war er ein wissender Mann…
FIN
Fortsetzung folgt.
Karl hat das Potential, zu einer ganzen Serie zu werden. Ich bin gespannt, was sich in den Aufzeichnungen des Mannes aus dem Orient befindet. Sicher wird es spannend weitergehen. Danke, dass wir diese Geschichte zum Leben erwecken konnten. Wie immer wusste ich im Vorfeld nicht, wohin sie mich führen würde.
Und im Grunde weiß ich das noch immer nicht.
Danke für die Zuschriften und Erkundigungen, wie mich diese Geschichten finden. Um ehrlich zu sein, bin ich einfach anwesend, öffne mein Schreibprogramm und fange an zu tippen. Es folgt ein nervender Überarbeitungsprozess, Rechtschreibkorrektur (übrigens: Wer einen Rechtschreib-/Tippfehler findet, darf ihn stets gerne behalten) und die Veröffentlichung auf der Plattform.
Apropos Plattform: Um diese wirtschaftlich zu betreiben, freue ich mich über den Abschluss eines Abos. Nicht nur wie es mit Karl weitergeht bleibt spannend, sondern auch, was mich auf diesem Prozess noch so alles finden wird. Wäre es nicht meine Plattform, ich hätte längst ein Abo abgeschlossen. Danke für die Unterstützung und bis nächste Woche!