Der Kaufmann kam nach einer beschwerlichen und langen Reise in Indien an. Er wollte seinen Meister treffen und ihm von seinen Erfahrungen berichten. Ihm danken. Nie hatte er ihm wirklich gedankt. Denn er hatte überhaupt nicht verstanden, wie groß das Geschenk war, das der Guru ihm überreichte.

Sein Leben lang versuchte der Kaufmann, alles richtig zu machen. Und als er alles richtig machte und über Erfolg, Geld, Einfluss und Macht verfügte, stellte er fest, dass sein Herz leerer denn je und sein Geist geschwächter als jemals zuvor war.

Als er vor dem Haus des Gurus ankam, war dieselbe Szene zu sehen wie beim letzten Mal: Unzählige Pilger standen vor dem Haus Schlange. Alle hatten ein Geschenk für den Guru dabei. So viel sie in der Lage waren, zu geben. Niemand hielt hinter dem Berg, und selbst die Ärmsten brachten prächtige Körbe voller Leckereien und Opfergaben.

Der Kaufmann reihte sich ein. Beim letzten Mal kam ihm das Warten vor wie eine Qual. Heute war er einfach. Er war im Moment und das Warten machte ihm nichts aus. Würde er heute nicht mehr an der Reihe sein, so würde er eben wieder in der Scheune übernachten, in der er das letzte Mal mit den anderen Pilgern geschlafen hatte.

Und so kam es auch. Als der letzte aus der Schlange das Haus verließ, es war mittlerweile dunkle Nacht, verkündete er, dass der Meister heute niemanden mehr empfangen würde.

Am nächsten Morgen, nach einer erstaunlich bequemen Nacht auf Heu gebettet, war der Kaufmann der dritte in der Schlange. Es dauerte dennoch bis in den späten Nachmittag, bis er an der Reihe war. Der Guru, so dachte der Kaufmann scherzhaft, könnte einen weiteren Guru vertragen, der ihm Arbeit abnahm.

Als der Guru den Kaufmann besah, stellte er sofort dessen Präsenz fest. Der Kaufmann, so wie wir ihn in dieser Geschichte kennengelernt hatten, existierte nicht mehr. Er war gegangen und hatte Platz gemacht für das, was unterhalb der Person liegt. Unterhalb der Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen. Jeden Tag.

Der Kaufmann hörte auf, sich zu erzählen, er sei der Sohn einer großen Dynastie an erfolgreichen Kaufleuten, die allesamt Waren von überall auf der Welt nach Europa importierten. Er hörte auf, sich zu erzählen, dass er nicht genug sei, wenn er den Erfolg der Vorgängergeneration nicht übertreffen würde.

Er hörte auf sich zu erzählen, dass er als Mann von Welt etwas Besonderes sei. Und er ließ zu, was unter der Oberfläche brodelte. Die letzten Monate waren gewiss kein Kindergeburtstag. Heute würde man sagen, er durchlebte eine schwere Depression, unzählige Identitätskrisen und setzte sich mit dem Endgegner auseinander: seinem inneren Kind.

Er umarmte es, indem er fühlte, was er als Kind fühlte und verdrängte. Alles, was er damals als kleiner Junge nicht in der Lage war zu fühlen, landete in einer Kiste, die tief am Meeresgrund seines eigenen Seins lag. Als er diese Kiste aufsperrte, war es kein Zuckerschlecken, all das zu fühlen, was er als kleiner, übergewichtiger, reicher Junge, hatte ertragen müssen. Die Schläge seines Vaters waren nur das i‑Tüpfelchen einer Jugend, die gewaltvoller nicht hätte sein können.

All das machte ihn zwar zu einem erfolgreichen Kaufmann — zum erfolgreichsten in der Familiengeschichte — aber auch zu einem innerlichen Wrack, das den Sinn des Lebens nicht verstand. Ehe er den Guru traf, und das sagte er beileibe niemandem, nicht mal seiner Frau, fragte er sich des Öfteren, ob es nicht einfacher wäre, bei einer seiner Expeditionen einfach von Bordzu gehen.

Nun stand er dem Guru gegenüber. Auge in Auge erblickte sich erwachtes Sein.

»Wie ich sehe, seid ihr zu dem geworden, den ihr euer Leben lang suchtet. Wie schön «, sagte der Guru.

»Ich bin ggekommen,um Euch zu danken. Ohne Euch wäre ich noch immer der Kaufmann, der es allen zu beweisen ersuchte. Ich wäre noch immer in der törichten Annahme, dass ich dieses Leben gewinnen müsse. Durch Euch habe ich verstanden«, erklärte der Kaufmann in tiefer Dankbarkeit. Er verneigte sich vor dem Meister und überreichte ihm einen Korb voller Köstlichkeiten. Darunter befand sich eine Menge Geld,über das der Meister nach freiem Ermessen verfügen konnte. Später sollte er damit einen Brunnen im Dorf und eine Schule für wissbegierige Kinder bauen, um ihnen Lesen und Schreiben beizubringen.

»Nun von Euch hätte ich weniger nicht erwartet, als reicher Kaufmann, der Ihr einmal wart«, sagte der Guru dazu in scherzhafter Laune.

»Wisst ihr, ich habe beschlossen, meinen Reichtum zu nutzen, um anderen einen Dienst zu erweisen. Ich wüsste nicht, was ich sonst damit anstellen sollte«, sagte der Kaufmann aufrichtig.

»Es ehrt Euch und zeigt die Wahrhaftigkeit Eurer Erfahrung. Gebt nur acht, dass ihr daraus keine Mission macht. Euer Geist ist noch gewohnt, aus allem eine Aufgabe zu machen. Gebt, wenn ihr könnt und wollt. Nicht mit Strategie oder weil Ihr mmeint, es zu müssen«.

Der Kaufmann und der Guru sprachen noch eine ganze Zeit, ehe der Kaufmann Platz machte für die vielen Suchenden, die vor der Tür des Gurus auf ihn warteten. Heute würde vielleicht noch einer von ihnen in den Genuss der Präsenz und Weisheit des Gurus kommen.

Kaum in Europa angekommen geschahen merkwürdige Dinge im Leben des Kaufmanns. Immer wieder fragten ihn fremde Menschen um Rat. Sie spürten seine Präsenz. Er strahlte etwas aus, das die meisten Menschen suchen, selbst wenn sie dies gar nicht wissen. Viele Menschen streben nach dem Zustand der inneren Freiheit. Danach, nicht mehr krampfhaft tun zu müssen, nicht mehr etwas erreichen zu müssen. Die meisten Menschen tragen eine Last auf ihren Schultern, die so groß ist wie mehrere Rucksäcke. Es ist ihre Geschichte. Es ist das, was sie sich über sich selbst erzählen. Meinen zu sein. Der Kaufmann gab all dies ab. Und da er damit leicht wie eine Feder im Leben wurde, fanden ihn andere Menschen, die das gleiche anstrebten. Auf Parkbänken. Beim Abendessen im Restaurant. Beim Spielen mit seinen Kindern im Park. Bald darauf sprach es sich herum und viele Menschen aus seinem Heimatort besuchten ihn. Er wurde ein europäischer Meister und Guru, ohne Räucherstäbchen, aber mit derselben Erkenntnis.