Einst war ein reicher Kaufmann mit Ländereien, Beziehungen und unermesslichem Reichtum. Er war Unternehmer in dritter Generation. Sein Vater und Großvater bauten die Handelsbeziehungen gen Indien auf. Sie importierten teure Gewürze und Seide und verkauften sie in ganz Europa. Doch eines Tages fand der Kaufmann eine Leere in sich. Er fand keine Antwort und jeder, den er konsultierte, brachte ihn nicht weiter.
Bat er andere Kaufleute um Rat, sahen die ihn an, als hätte ihn eine Krankheit befallen.
Kein Arzt konnte ihm helfen.
Seine Frau verstand ihn nicht.
Sogar Wunderheiler suchte er auf.
Keiner war weise genug, sein Dilemma zu verstehen. Er ertrank in Reichtum, Leere und Alkohol.
Eines Tages machte er sich auf nach Indien. Eine Reise, die ihm widersprach. Auf hoher See erbrachen seine Gedärme und sein Herz gleichermaßen.
Was suchte er, da er doch alles besaß?
Herrenhäuser, Frau, Ländereien. Er war ein angesehener Kaufmann, der regelmäßig mit dem Königshaus verkehrte. Seine Empfänge galten als Legende seiner Zeit.
Und doch fand er in sich nur Leere.
Er hatte jeden weltlichen Erfolg. Kannte kein Pardon mit sich selbst. Leistung war alles, was ihn ausmachte.
Und nun auf diesem Schiff, eine ganze Mannschaft, um noch mehr Reichtum anzuhäufen, verstand er seine Welt nicht mehr. Stimmte etwas mit seiner geistigen Verfassung nicht?
Was suchte er, was er in seinem Leben nicht fand?
Seine Flotte erreichte Indien. Kreidebleich verließ er das Schiff. Erholte sich in der schönsten Unterkunft in ganz Indien. Seine Diener pflegten ihn gesund. Doch sein Geist blieb schwach. Müde tätigte er seine Geschäfte, für die er um die halbe Welt fuhr. Erfolgreich wie immer, innerlich gestorben wie noch nie.
Als Tage später seine Flotte zurück in seine heile Welt reisen wollte, konnte er den Gedanken nicht ertragen, zurückzugehen. Der reiche Kaufmann beschloss, in Indien zu bleiben.
»Seid ihr sicher, oh Herr? Indien gilt als gefährliches Pflaster. Und ihr seid ganz auf Euch alleine gestellt. Niemand wird Ihnen das Essen bereiten, noch Euch vor den Barbaren der indischen Straßen schützen können«, sagte sein engster Vertrauter und rechte Hand.
»Fahrt ihr zurück ins gelobte Land. Ich werde zurechtkommen. In 90 Tagen sendet ein Schiff um mich abzuholen. Und nun lasst mich alleine und kümmert Euch gut um die Geschäfte!«. Mit diesen Worten machte der Kaufmann kehrt und verließ die Szene.
Drei Tage lang verließ er nicht einmal das Zimmer. Eingeschlossen in vollkommener Zurückgezogenheit. Er ertrug den Lärm der Stadt nicht. Immerzu musste sie Laute von sich geben. Fast verhungert organisierte er sich über das Gasthaus eine Portion halbwegs genießbaren Essens und begab sich in die Haupthalle des großen Hauses, dessen Decke mit reinem Gold verziert war. Es roch nach exotischen Gewürzen, die Kleider waren bunt und ihm wurde schlecht. Er aß das Curry, spuckte Feuer dabei und vernahm, neben dem Stimmgewirr auf indisch, eine ihm vertraute Sprache.
Er blickte sich um und entdeckte in einer Nische einen fein gekleideten Herren, den er meinte, von einem Empfang des Botschafters her zu kennen. Ihm gegenüber saß ein fein gekleideter indischer Mann mit reichlich Schmuck. Er sprach ruhig und langsam und ihm umgab eine Aura der vollkommenen Stille. Etwas sprach im Geiste des Kaufmannes. Aufmerksam beobachtete er die Szene und als sich der Herr, der dem Inder gegenüber saß, erhob, ergriff er seine Chance.
»Seht, seht, wen man nicht im fernen Indien alles trifft!«, sprach er, ohne eine genaue Ahnung davon zu haben, wer der fremde Europäer war, der sich gerade erhob.
»Oh, was für eine nette Überraschung!«, entgegnete ihm dieser und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. »So setzen wir uns doch an meinen Tisch, wenn ihr mit Eurer Besprechung fertig seid«, bot der Kaufmann nun an.
»Gewiss«, sagte sein Gegenüber und sie nahmen an seinem Tisch Platz.
»Was führt Euch nach Indien?«, fragte der reiche Kaufmann sein Gegenüber. »Die üblichen Geschäfte. Morgen startet meine Flotte mit der feinen Seide. Und schon bald werden meine Schneidereien ganz Europa mit feinem Zwirn ausstatten. Und Ihr, was macht Ihr hier? Habt Ihr Eure Schiffe mit den feinsten Gewürzen bestückt?«.
Nun wusste der reiche Kaufmann wieder, dass er den Mann auf dem letzten Empfang des Botschafters getroffen hatte. Er konnte ihn nicht sonderlich ausstehen, fand ihn missionarisch. Als wolle er mit dem Import von Seide nicht einfach nur seinen Reichtum mehren. Nein, er wolle die Haut seiner meist reichen Kundinnen streicheln und ihnen Gutes damit tun. Ein Spinner, dachte sich der Kaufmann damals.
»Gewiss doch! Meine Flotte ist bereits ohne mich auf dem Weg zurück«.
»Nun, was macht ihr dann noch hier, wenn Eure Schiffe bereits den Heimweg angetreten haben, wenn ich Euch recht verstanden habe?«, fragte ihn der andere Händler.
»Das ist gewiss eine berechtigte Frage. Mir war danach, als sollte ich noch eine Weile hier im fernen Indien verbringen«, gab er ausweichend zurück.
»Sagt«, setzte der reiche Kaufmann nun zu einer Gegenfrage an: »Wen habt ihr dort getroffen? Dieser Mann ist mir gänzlich unbekannt. Ist es ein Produzent von Seide?«.
Der Seidenhändler bedachte ihn einen Moment mit einem musternden Blick. Irgendwas lag in der Luft, auch wenn der reiche Kaufmann nicht genau wusste, was. Also erwiderte er einfach den Blick des Seidenhändlers und wartete ab. Eine gute Weile später sagte dieser: »Nun, dies ist Sri Ramana. Er ist indischer Gelehrter. Ich fand ihn durch einen Kontakt… oder besser, er fand mich«, sagte der Seidenhändler mit einem mystischen Unterton.
»Wie meint ihr das, „er fand Euch“, und über welche Lehre spricht dieser Sri Ramana?«, wollte der reiche Kaufmann nun wissen.
»Nun, ich glaube, das müsst ihr selbst herausfinden. Er wartet auf Euch. Ich muss Euch warnen. Nach einer Unterredung mit ihm, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Ich wünsche Euch viel Glück. Und bedenkt, dass er für seine Dienste ein hohes Salär in Form von Gold oder Diamanten fordert. Seid Euch jedoch versichert, dass er jeden Penny wert ist. Mehr kann ich Euch beim besten Willen nicht sagen«. Mit diesem Satz erhob sich der Seidenhändler, nickte dem Kaufmann zu und machte auf dem Absatz kehrt. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Gehet hin. Wenn er wartet und seinen Blick nicht abwendet, wartet er auf einen neuen Schüler. Diese Gelegenheit ist selten. Sagt ihm, ich hätte Euch geschickt. Aber er weiß dies sowieso, so wie er alles weiß«.
Ehe der reiche Kaufmann, der sich nicht sicher war, ob er das alles nur träumte oder ob es real war, versah, war der Seidenhändler verschwunden. Der Kaufmann überlegte. Trank sein Bier, verdaute seine Mahlzeit. Dieser Sri Ramana saß einfach da, ohne etwas ersichtlich zu tun. Er blickte, ohne zu schauen. Sah, ohne offensichtlich zu sehen. Nam wahr, ohne anwesend zu sein. Wirkte voll präsent, ohne sich aufzudrängen.
Mit anderen Worten: Die Neugier war zu stark, ohne dass der Kaufmann sich hätte einfach abwenden und den Raum verlassen können. Er machte sich auf den Weg in die Nische, zu diesem indischen Gelehrten.
»Guten Abend, mein Herr. Gestattet Ihr mir, dass ich mich zu Euch geselle?«, fragte er Sri Ramana. Dieser bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er einverstanden sei. Der Kaufmann setzte sich. Und dann geschah: Gar nichts. Minutenlang starrte ihn der Inder mit abwesendem Blick in die Augen. Es kam dem Kaufmann vor wie eine Ewigkeit. »Nun, offensichtlich sprecht Ihr meine Sprache«, wagte er sich aus der Defensive. »Ich spreche viele Sprachen. Sprachen sind ein Werkzeug, aber Worte letztlich ohne Bedeutung«, sagte Sri Ramana.
»Ich habe Euch mit einem Bekannten sprechen sehen… und da dachte ich…«, wagte sich der Kaufmann vor, der vom Inder unterbrochen wurde, der sagte: »Da dachtet Ihr, Ihr könntet dem weisen Inder ebenfalls einen Besuch abstatten, da etwas in Eurem Leben nicht stimmt. Nur zu. Um was geht es Euch?«.
Der Kaufmann war erstaunt ob der Direktheit des indischen Gelehrten. Er hatte erwartet, ein Schauspiel aufziehen zu müssen, in welchem er so tat, als sei er geläutert und bereit für den Rat des Meisters.
Als hörte der Inder seine Gedanken, sagte er: »Ihr müsst Euch nicht verstellen. Sagt mir einfach, weswegen Ihr meinen Rat ersucht. Rein von Eurer Erscheinung wird es Euch an nichts mangeln. Ich kenne Menschen wie Euch: Es sind nicht die materiellen Dinge, die Euch im Wege stehen. Meist suchen Menschen wie Ihr nach etwas anderem im Leben, ohne zu wissen, was es ist, wonach Euer Herz sich sehnt«. Der Kaufmann war baff. Es war, als träfe der indische Gelehrte genau ins Schwarze. »Genau dies umschreibt meine Situation«, erwiderte der Kaufmann daraufhin.
»Sagt, habt Ihr eine erfolgreiche Firma?«, wollte Sri Ramana wissen.
»Ja, wir importier…«, sagte der Kaufmann, ehe er vom Gelehrten unterbrochen wurde, als dieser sagte: »Ich brauche keine weltlichen Kleinigkeiten. Mir genügt die Bestätigung, was ich ohnehin schon sehe. Habt ihr eine Familie?«
»Ja, eine Frau und zwei Töchter«, sagte der Kaufmann.
»Und seid Ihr gesund von Eures Körpers wegen?«, wollte der Weise wissen.
»Ja, soweit mir bekannt ist, bin ich gesund. Warum fragt Ihr das alles?«, wollte der Kaufmann wissen.
»Die Armen streben nach Geld. Die Einsamen nach einer Familie. Die Kranken nach Gesundheit. Hat man alles drei, hat man alles erreicht, was diese Welt zu bieten hat. Wo ist dann Euer Problem?«, entgegnete der Inder, der seinen Tee austrank und dem Mann an der Theke bedeutete, dass er gerne einen neuen hätte.
Der Kaufmann dachte über die Worte des Gelehrten nach. Hatte er am Ende alles, was man in dieser Welt anstreben konnte? War er nicht dankbar genug? Er war dankbar und doch entstand in den letzten Jahren diese Leere im Herzen. Dieses Gefühl, nicht vollständig zu sein. Egal wie sehr er seinen Reichtum vermehrte. Aber nun schien er beschwichtigt. Er hatte verstanden, was ihm der Gelehrte hatte sagen wollen. Er solle sich nicht so anstellen, schließlich gäbe es genügend Menschen, die nicht in einer solch privilegierten Lage lebten, wie er. Der Kaufmann erhob sich.
»Nun, offensichtlich habe ich gar nicht wahrgenommen, wie glücklich ich mich schätzen kann. Ich danke Euch ergebens für Euren Rat. Lasset mir die Zahlung Eures Tees. Ich bestehe darauf«.
Der Inder rührte sich nicht. Seine Falle schnappte zu. Mit seiner Andeutung wollte er wissen, wie weit der fremde Europäer gehen würde. Welche Bereitschaft er hatte, sein Leben wirklich zu verändern. Zu erkennen, was und wer er wirklich war. In seine Essenz zu gehen. Die meisten Menschen, die ihn um Rat ersuchten, waren nicht bereit, über ihr Leben hinauszugehen. Die Geschichte zu vergessen, mit der sie sich so sehr identifizierten, dass sie blind für die Wahrheit und die wahre Selbsterkenntnis wurden. Scheinbar war der Kaufmann keiner von denen, die wirklich bereit waren.
»Ihr schuldet mir nichts. Der Inhaber dieses Gasthauses berechnet mir nie etwas. Nun, da er gesehen hat, dass wir uns kennen, wird er Euch ebenfalls nichts für Eure Unterkunft und Euer Mahl berechnen«, sagte Sri Ramana.
Der Kaufmann wendete sich ab. Erleichtert und dankbar beschloss er, einen Spaziergang zu unternehmen. Die letzten Tage hatte er sich in dieses Zimmer eingeschlossen. Vollkommen abgesondert von der restlichen Welt. Nun genoss er den Gang durch das mit orientalischen Düften verhangenene Indien. Er hatte noch 87 Tage Zeit, bis sein Schiff kam. Was sollte er nur so lange tun? Morgen würde er telegrafieren, dass man ihn früher abholen solle. Er könnte auch in den Hafen gehen und dort ein Schiff nebst Besatzung mieten, doch er fuhr lieber auf seinen eigenen Schiffen. Wer weiß, welche Halunken er sich anmieten würde… Als er seinen Spaziergang beendete, ging er auf sein Zimmer und schlief seit langer Zeit einmal wieder sehr gut.
Einige Tage nach seiner Rückkehr in den Westen war er am selben Punkt wie zuvor. Seine Gedanken kreisten nur um sein Geschäft. Fühlte er sich nach dem Gespräch mit dem Inder erleichtert — ja fast — erhaben, so holte ihn die Realität schneller ein, als ihm lieb war. Er war den ganzen Tag damit beschäftigt, sein Geld zu mehren. Dabei verpasste er die wichtigsten Schritte seiner Töchter, entfremdete sich von seiner Frau und hatte tagein, tagaus mit Taugenichtsen zu tun, die ihm den Verstand raubten. Es war schlimmer als je zuvor! Und doch versuchte er sich jeden Tag an die Worte des weisen Inders zu erinnern, der ihn zur Dankbarkeit ermahnte.
Doch allzu viel länger konnte es so nicht weitergehen. Das Vermögen wuchs im gleichen Tempo, wie das Herz leerer wurde. Er konnte nicht länger von sich selbst weglaufen, also beschloss er, das nächste Schiff nach Indien zu begleiten und nach Sri Ramana zu suchen.
Eines Tages nach seiner Ankunft in Indien erhielt er endlich einen Hinweis darauf, wo sich der weise Gelehrte aufhalten solle. Er lebte in einem einfachen Haus auf einem Hügel hinter der Stadt. Es war die reinste Pilgerstelle. Zu Hunderten strömten die Menschen von der Stadt in die Berge. Ihre Herzen waren schwer, aber nicht so schwer wie die Lasten der Geschenke, die sie ihrem Meister brachten. Blumengestecke, Essen und Kleidung, Wasser und wer reich war, brachte Gold.
Der Kaufmann musste nun daran zurückdenken, dass ausgerechnet er ihm lediglich einen Tee spendieren wollte, und selbst das nicht tat. Bevor er sich mit einem Eselgespann auf den Weg machte, besorgte er dem Inder noch einen Korb voller Essen und legte, großzügig wie er war, noch einen teuren Goldring obendrauf.
Er fuhr vorbei an den Menschen, die zu Fuß auf dem Weg zu ihrem Meister waren. Sie blickten ihn an. Er fühlte sich schlecht, weil er den anstrengenden Weg so mühelos zurücklegen konnte. Aber er musste eben auf dem schnellsten Weg zum Meister. Keinen Tag länger hätte er es in seinem Körper sonst mehr ausgehalten.
Angekommen am Haus musste er sich dennoch einreihen. Die Gespräche dauerten, so lange sie dauerten. Mancher kam nach einer Minute heraus, mancher nach drei Stunden. Und so setzte sich der Kaufmann mit seinem schweren Korb voll Essen und dem Ring aus Gold auf einen Stein vor dem Haus des Gelehrten und wartete. Stunde um Stunde verging und es wurde langsam Abend. Der Mann, der am späten Nachmittag das Haus betrat, war nun seit Stunden drin, ohne wieder herauszukommen. Langsam fragte er sich, was er tun solle: Sollte er zurück in die Stadt gehen? Allerdings war seine eselbetriebene Kutsche längst weg. Er müsste den Weg zurück laufen. Und die anderen Menschen machten keine Anstalt einer Rückkehr in die Stadt.
Stunden später, es war mittlerweile Nacht geworden, kam der Mann aus dem Haus. Er war nicht mehr derselbe. Ging er mit gebückter Haltung und schlechter Laune ins Haus, so kam er wie ein Leuchtfeuer des Lebens wieder heraus. Er strahlte am ganzen Körper. Seine Energie war ansteckend. Dann rief er in die Menge, dass der Meister heute niemanden mehr empfangen würde und dass die Menschen in die Scheune gehen sollten, wo sie Heu und ein Dach für die Nacht fanden. Die Scheune war einige Meter weiter, noch tiefer in den Bergen, und war die Herberge für die Suchenden, die über Nacht auf ihren Meister warteten.
Am nächsten Morgen wachte der Kaufmann früh auf. Dennoch war er der letzte in der Scheune. Alle anderen waren längst am Haus des Gurus. Als er dort ankam, sah er den Guru auf seiner Veranda sprechen. Um ihn herum waren alle anderen, die die Nacht in der Scheune verbrachten, und einige neue Menschen aus der Stadt. Der Weise hielt eine Rede. Seine Zuhörer waren wie verzaubert. Nicht lange und es war vorbei. Das, was der Guru zu sagen hatte, betraf wohl genau diese Gruppe an Menschen. Er sagte dadurch zu jedem einzelnen genau das, was diese hören sollten. Es war wie eine Gruppenkonsultation. Die Menschen erhoben sich, überreichten ihre Geschenke, verneigten sich und gingen.
Da erblickte der Meister den Kaufmann und bedeutete ihm, zu sich herüber ins Haus zu kommen.
Der Kaufmann folgte der Einladung und betrat das bunt, aber schlicht eingerichtete Haus des Sri Ramana. Die vielen Gaben, die er erhielt, spendete er größtenteils an ein Volk in den Bergen, das keinen Zugang zur Stadt hatte. Er selbst nahm sich nur das Nötigste. Von dem Gold, das ihm die reicheren Stadtbewohner brachten, errichtete er Schulen oder Gesundheitszentren, in denen von ihm ausgebildete Heiler arbeiteten.
»Offensichtlich befriedigen Euch Euer Reichtum, Eure Gesundheit und Eure Familie nicht genug«, sagte der Guru nun zum Kaufmann.
»Doch, doch. Und ich bin für alles sehr dankbar. Nur…«, sprach der Kaufmann, weiter kam er jedoch nicht.
»Nur, dass dies nicht alles im Leben ist«, vollendete Sri Raman den Satz und erklärte sogleich alles Wesentliche in eben diesen paar Worten.
»Ja, richtig. In meinem Herzen wohnt eine Leere. Ich ertrage den Alltag nicht mehr. Mein Geschäft ist mir zunehmend eine Belastung. Von meinen Töchtern erfahre ich nur sporadisch, wie es ihnen geht, und meine Frau ignoriert mich vollends. Sagt, könnt ihr mir einen Rat geben, damit dies wieder in Ordnung kommt?«, sagte der Kaufmann mit leiser, zittriger Stimme.
»Was Ihr wirklich sucht, ist in dieser Welt nicht zu finden. Ihr seid am Rande des Spiels angelangt und im Begriff zu erwachen. Nicht das Irdische ist es, was Euch Glück schenken wird. In Eurer Brust wohnt ein Kompass. Das Herz deutet auf eine Wahrheit, die tiefer ist als alles, was diese Welt zu bieten hat«, sagte Sri Ramana.
Der Kaufmann hörte die Worte, aber sie zu fassen, wirklich zu verstehen, ist eine Kunst, die erlernt werden will.
»Aber was sucht mein Herz denn, wenn es nicht in dieser Welt zu finden ist? Wo soll ich suchen?«, wollte der Kaufmann jetzt wissen, in dem sich innerlich und fast körperlich alles zu drehen begann.
»Die Frage ist nicht „Wo soll ich suchen“, die Frage ist: Was müsst Ihr loslassen, um zu erkennen. Die Menschen glauben, was ihnen seit ihrer Geburt erzählt wurde. Sie seien dieser und jemand. Dies und das seien sie und dies und das seien sie nicht. Die Gesellschaft ist ein Spiegel. Sie gehen durchs Leben, glauben, ein „Jemand“ zu sein. Mancher spielt dabei die Rolle eines Bettlers, ein anderer die eines reichen Kaufmanns. Doch allesamt haben eins gemeinsam: Es ist und bleibt eine Rolle.
Euer Herz deutet auf die eine Wahrheit. Darauf, dass es diesen jemand gar nicht gibt. Was, wenn Ihr niemals Teil dieser Welt wart? Was, wenn es diese Welt gar nicht gibt? Sie eine Illusion ist? Was, wenn Ihr niemals geboren wurdet und niemals sterben könntet? Der Punkt, an dem Ihr im Leben steht, ist der entscheidende Punkt allen Lebens: Ihr steht an der Schwelle der Erkenntnis. Ihr habt sie noch nicht durchschritten. Aber größtenteils seid Ihr fertig mit den weltlichen Spielen, die Euch nichts mehr bringen außer dem Deuten auf die große Erkenntnis.
Also fragt Euch und nehmt Euch Zeit: Was wäre, wenn Ihr die Geschichte des Kaufmanns loslassen würdet? Was bleibt übrig, wenn sie wegfällt? Wer seid Ihr, wenn Ihr nicht mehr der Mann sein müsst, der Ihr gerade seid?
Der Kaufmann war wie von einem Meteor getroffen. Er konnte die Worte nicht fassen. Den fremden indischen Guru nicht verstehen. Doch in ihm, da rührte sich etwas. Es war, als wäre eine Tür aufgegangen. Eine Erkenntnis machte sich in ihm breit.
Lange Zeit schwieg er. Sri Ramana blickte seinen neuen Schüler direkt in die Augen, während er darauf wartete, dass er bereit war weiterzumachen.
»Aber…«, stammelte der Kaufmann, »wenn ich nicht der bin, für den ich mich hielt, wer bin ich dann?«.
»Dies ist die entscheidende Frage. Wer seid ihr dann? Ihr werdet diese Frage nicht mit dem Geist beantworten können. Wenn Ihr eine Antwort auf diese Frage habt, so kommt wieder zu mir zurück. Sodann können wir uns wirklich begegnen. Doch seid gewarnt: Nicht selten hat diese Frage in den Wahnsinn geführt. Nur die Edelsten, Stärksten und Entschlossensten erhalten darauf eine Antwort«, sagte der Guru, der danach schwieg.
Der reiche Kaufmann verstand, dass er mehr nicht würde aus dem weisen Inder herausbekommen heute. Also blieb ihm nichts anderes, als sich zu verneigen und das Haus zu verlassen.
Draußen war es heiß und schwül. Längst war der Nachmittag angebrochen. Wie konnte das sein? In seiner Wahrnehmung hat die Unterredung mit dem Guru niemals so lange gedauert.
Einige Wochen später war der Kaufmann wieder zuhause. Pausenlos dachte er über die Frage: „Wer bin ich?“ bzw. „Wer bin ich, wenn ich nicht der Kaufmann bin“, nach. Doch er fand keine Antwort, was ihn zusehends frustrierte. Er hinterfragte das ganze Treffen mit dem weisen Inder immer mehr und machte ihn innerlich dafür verantwortlich, dass er sein ganzes Leben nun hinterfragte, aber keine Möglichkeiten durch ihn fand, es zu verändern.
Nicht lange nach seiner Rückkehr erreichte ihn ein Brief. Er war schön verziert und stammte aus dem fernen Indien. Als ihm sein Diener den Brief überreichte und er den Absender las, wurde ihm heiß und kalt zugleich. Er öffnete ihn. In ihm stand ein einziger Satz oder besser, eine einzige Frage:
»Wer bin ich nicht?«
Der Kaufmann verstand zunächst nicht. Es sollte Tage dauern, bis ihn die Erkenntnis traf, wie der nächste Meteorit. Der Guru hat ein einziges Wort an die Frage gehängt, das alles veränderte. Indem er sich fragte, wer er alles nicht sei, würde er irgendwann unweigerlich zur Antwort kommen.
In den nächsten Wochen fiel dem Kaufmann immer mehr auf, was er nicht (mehr) war: Er war kein Vater, kein reicher Kaufmann, kein Engländer, kein Mann. Er war nicht sein Körper, nicht seine Sinne, nicht seine Gedanken, nicht sein Ego. Es war, als wäre er niemals geboren worden. In einem Moment der tiefen Kontemplation verstand er, dass er mit allem um sich herum verbunden ist. Er verstand, dass das, was der Guru ihm sagte, nichts mit Worten zu tun hatte. Liest man einen Text oder hört man das Wort von jemandem, der die Essenz verkörpert, so breitet sich die Erkenntnis automatisch in einem selbst aus.
Genau das ist mit dem Kaufmann geschehen. Er verstand nun, dass die Welt eine Bühne ist, um wieder zu sich selbst zu finden. Es ist ein Schauspiel, das jeder selbst inszeniert, um sich zu erinnern, dass man nicht die weltliche Person ist, für die man sich sein Leben lang gehalten hat.
Niemals wurde er geboren, niemals würde er sterben.
Sein Leben wurde zu einer einzigen Spielwiese des Seins. Er genoss alles daran. Jeden Atemzug. Jede gute und schlechte Nachricht. Er trat kürzer in seinem Unternehmen und schon bald sollte er es verkaufen. Er wusste, es gibt für ihn nichts mehr zu erreichen, außer, dass seltsamerweise die Gespräche tiefer wurden. Menschen begannen, ihn aufzusuchen, um Rat zu fragen. Er nahm sich Zeit. Antwortete aus seinem tiefen Sein heraus.
Manches Mal verfiel er in alte Muster. War plötzlich wieder sehr involviert in die Rolle des Vaters oder des Ehemanns oder des Unternehmers. Doch immer dann, wenn er das feststellte, holte er sich zurück, indem er sich fragte: »Wer bin ich gerade?«. Ihm war vollkommen klar, dass die wenigsten Menschen jemals verstehen würden oder von der Erkenntnis kosten könnten, in der er badete.
Bald darauf fuhr er nach Indien. Er wollte den Guru treffen. Ihm danken. Ihm von seinem Weg erzählen.
FIN
Was zwischen ihm und dem Guru geschah, wird als „Short Story“ am kommenden Mittwoch veröffentlicht. Ich freue mich auf den Abschluss der Geschichte.
P.S.: Wer, wie der Kaufmann, jemals einen solchen Raum in sich selbst finden möchte und herausfinden, wer er ist, jenseits aller Normen, Vorstellungen & Konditionierungen – vorbei an der selbst erschaffenen Matrix aus Gedanken, Müssen und Identitäten – kann dies gerne erleben. Ich öffne hiermit einen Raum für jene, die sich gerufen fühlen: manuel@manuel-kugler.com.
Wenn der Funke im Herzen glüht, schmiedet man aus dem Feuer der Erkenntnis. Der Raum ist geöffnet…