Vivian war nicht wie alle anderen. Sie war anders. So sehr, dass sie andere mit ihrer bloßen Freude ärgerte. Sie schaffte es, dass sie ihr Vater anraunte, nur weil sie eben sie selbst war. Ihre Mutter wollte sie verstecken, sie durfte nie laut lachen oder weinen. Immer wenn sie vor Freude und purer Ekstase bebte, erzörnte sich der Vater und trieb ihr alle Freude aus dem Leib.
Ihre Freunde waren genervt von der Freudigkeit in ihr. Sie hatten von ihren Eltern längst gelernt, dass die Welt ein schlechter Ort ist, und man sich besser anpasste. Lieber auch in der Dunkelheit lebte. Wie alle anderen.
Irgendwann, Vivian saß auf einer wunderbaren Sommerwiese, wurde es ihr zu bunt. Sie beschloss, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Ihre Freude war zu viel, ihr Gesang zu laut, ihre Weltsicht zu positiv. So würde sie niemals Anschluss finden in der Welt. In diesem Moment erschuf sie einen gewaltigen Raum. In diesen Raum packte sie alles, was ihr als störend von der Welt mitgeteilt wurde: Zu viel Freude – in diese Ecke. Zu viel Leichtigkeit – in diese Ecke. Lachen, einfach so – in diese Ecke. Lebendigkeit? Bloß nicht – ab in diese Ecke.
Sie verstaute den Schlüssel und versprach sich, jeden Tag in ihrem Raum zu sein, um etwas Freude zu haben. Fernab der Welt. Doch irgendwie fühlte sie sich merkwürdig. Anders. Grau. Weniger lebendig. Aber das würde sich in den nächsten Tagen bestimmt wieder geben . Sie musste sich nur daran gewöhnen.
Nach einer Woche ging es ihr nicht besser. Nach einem Monat vergaß sie ihren Schlüssel und dass sie immer wieder in ihren Raum gehen wollte. Nach einem Jahr hatte sie den Raum gänzlich vergesssen. Sie war nun ein Schulkind.
Jahre vergingen.
Sie war erwachsen. Wie alle anderen. Hatte einen Job in dieser Online-Redaktion. Und war umgeben von lebenden Toten. Sie selbst war genauso. Bis sie Tom traf. Tom war freischaffender Künstler. Und Artist. Und eine Online-Berühmtheit. Was war Tom eigenltich nicht?
Er war nicht besonders zimperlich wenn es darum ging, Kaffee aus einem Rock herauszuschrubben. Selbigen hatte er im Cafe beim vorbeigehen auf sie gekippt. Ein Missgeschick für das sie hätte nicht dankbarer sein können.
Tom war anders.
Tom war lebendig. Tom erinnerte sie an etwas, das längst vergessen war. Tom hatte etwas in sich, das eine vage Erinnerung in ihr selbst auslöste.
Was war es nur?
Erst sprachen sie miteinander. Dann schliefen sie miteinander. Je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, desto mehr stellte Vivian fest, wie sehr sie die ganze Zeit versuchte, in eine Gesellschaft zu passen, die sie gar nicht mochte. Die sie eigentlich hasste. Sie war so nicht. Zumindest nicht schon immer.
Da erinnerte sie sich an ihren Raum. Daran, dass sie früher einmal anders war. Daran, wie sie auf dieser wunderschönen Blumenwiese in ihrer kindlichen Hocke saß und beschloss, dass es besser sei, die Freude, Verrücktheit und Lebendigkeit aus ihrem Leben zu verbannen. Sich selbst zu verbannen. Sie verstand, dass wir alle einzigartig sind. Dass wir alle etwas in uns tragen, dass nur darauf wartet gelebt zu werden. Sie verstand, dass wir alle einen solchen Raum haben.
Je mehr Zeit sie mit Tom verbrachte, desto mehr erinnerte sie sich an ihren Raum. Doch sie konnte nicht lange in ihm verweilen. Das nächste Meeting, der nächste Scroll-Marathon auf ihrem Smartphone oder die nächste Tragödie ihrer Freundin, die mal wieder einen Mann verlor, holte sie ein.
Sie musste sich entscheiden: Tom und ihr Raum oder ihr altes Leben im Trott zwischen den Halbtoten, so wie Tom und sie sie mittlerweile nannten. Ihr Herz wusste, was sie wollte. Ihr Verstand wusste es zu verhindern. Ein Prozess begann. Ein zähes Ringen um die Oberhand eines Menschenlebens: Sollte sie weiterhin die Idiotin in einem fremden, falschen Leben sein? Oder sollte die Prise Verrücktheit ausleben, die sie in ihrem Raum spürte? War das nicht das echte Leben?
Als sie ihren Job kündigte, anfing über ihr Leben und sinnvolle Dinge zu schreiben, anstatt über Handtaschen, erhielt sie ihren Schlüssel zurück. Zum ersten Mal konnte sie ihren Raum wieder für längere Zeit betreten. Sie erlaubte sich, sie selbst zu sein. Mit allem, was dazu gehört. Mit ihrer Verrücktheit, Spontanität, Lebendigkeit. Ihren schnellen Gedanken, mit denen sie schneller als alle anderen Denken konnte. Oder der Feinfühligkeit, die sie Menschen, Orte und Geschichten lesen konnte.
Die meisten Menschen in ihrem Leben verstanden nicht, was sie tat. Doch sie verstand es. Neue Menschen fanden sie. Solche, die auch in ihrem Raum lebten oder im Begriff waren, ihn zu öffnen.
Vivian genoss das Leben. Zum ersten Mal seit... überhaupt.
Sie heiratete Tom, den Artisten, Tausendsasa und Überlebenskünstler. Sie bekamen Kinder und flohen aus der Stadt, um ein ruhiges Leben zu begründen, indem ihr Essen aus dem Garten, die Gespräche aus der Nachbarschaft und ihr Glück aus ihnen selbst heraus kam.
Alles nur, weil Vivian ihren Raum wiederfand.
Wir alle haben einen solchen Raum. Wir alle sind Vivian. Aus Angst weil wir zu viel waren, haben wir uns versteckt. Wir haben uns lieber von uns selbst getrennt als noch einen Tag länger bewertet zu werden, nur für das, wer wir eben sind.
Wir verstanden die Welt nicht, in die wir geboren wurden. Lernten schnell, dass mit uns etwas nicht stimmen musste. Ich weiß, dass es viel mehr von uns gibt, als wir meinen. Und ich schreibe für uns. Für mich. Für euch. Für uns alle. Diese Geschichten sind Teil meines Raums. Meiner Kreativität. Meines Selbstausdrucks. Und ich hoffe, wer immer diese Geschichte liest, erlaubt sich selbst seinen Raum wieder zu finden. Die Welt braucht mehr Menschen, die den Schlüssel zu ihren Räumen in Händen halten und mutig diese eine Tür wieder aufschließen, die sie einst zugesperrt haben.
Danke.
Manuel J. Kugler
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