Teil 2 des jungen Schäfersohns, der sein Leben wegen der Wahrheiten des Lebens riskierte. Teil 1 ist hier zu lesen.
Er hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte überlebt. Seiner Torheit zum Trotz sein Leben für die Suche nach Wahrheit aufs Spiel zu setzen, war er noch immer am Leben.
Am ersten Tag fielen sie wie Wilde über ihn her: Er konnte kaum eine ganze Seite lesen. Sie bewarfen ihn mit Bier, Essen und Gin. Er roch wie das Erbrochene der erbärmlichen Pubs im Hafengebiet. Am zweiten Abend war die Mannschaft ob der unmenschlich harten Arbeit an Deck viel müder als am ersten. Viele von ihnen schliefen nach kurzer Zeit ein. Einige pöbelten. Einige lauschten mit skeptischem Blick, aber aufmerksam den Worten des Schäfersohns.
Am dritten Tag klebten die meisten wie gebannt an seinen Lippen. Sie wollten unbedingt erfahren, wie die Geschichte über die tapferen Seeleute, die die mit Abstand gefährlichste Route der Weltmeere segelten, weiterging. Zum Glück hatte er auf den alten Buchhändler im Hafen gehört und die Seeräuber-Romane anstatt seiner philosophischen Texte vorgelesen.
In seiner Unvernunft nahm er an, dass auch Seeleute an der Wahrheit des Lebens interessiert seien. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein menschliches Wesen nicht an seiner Existenz und seinem Ursprung interessiert war. Doch es gab in der Welt eben auch jene, die das Leben lebten, ohne es zu hinterfragen.
Er war sich nicht bewusst, dass es ein Privileg ist, in dieser Welt, in der seinen, geprägt von Überlebenskampf, Rauheit und Torheit, ein gebildeter junger Mann zu sein, der dem edelsten aller Rufe folgte. Der Wahrheit.
Selbst als der Gong zum Schlafen ertönte, durfte er nicht aufhören. Sie waren nun seine treuesten Anhänger. Niemand wollte verpassen, wie es im Roman weiterging. Es war das große Ereignis des Tages, das, auf das sich die Seeleute nach einem harten Tag auf hoher See freuten.
Der Vormann der Matrosen erstattete Bericht und der Eigner wart beeindruckt und zufrieden von der Ruhe unter den Seemännern.
Die Fahrt allerdings war schrecklich. Tagsüber musste er die Kajüten putzen, endlos Kartoffeln schälen oder die Hinterlassenschaften der Seemänner säubern. Abends las er. Der Seegang brachte ihn beinahe um. Er war kreidebleich und musste sich ständig übergeben. Er aß kaum und verlor nicht nur seine Gesichtsfarbe, sondern gefühlt auch die Hälfte seines Körpergewichts. Der Fremde, der ihn mit dem Eigner bekanntmachte und wie sich herausstellte zur Besatzung gehörte, sorgte sich ernsthaft um ihn. Er flößte ihm immer wieder Wasser ein und gab acht, dass er ihm nicht wegstarb, dieser junge, schmächtige Schäfersohn, der ihn an sein früheres Ich erinnerte.
Zu gut wusste er, was geschah, wenn das Herz von der Suche nach Wahrheit heimgesucht wurde. Doch der Jüngling wird sich erst noch zeigen, ob er bereit ist, den wahren Preis für die Erlangung der Wahrheit zu bezahlen. Er kannte wenige, die bereit waren, diesen Weg zu gehen. Er selbst war es auch nicht. Kurzzeitig erinnerte er sich daran zurück. An seine vergangenen Tage und die vielleicht einzige Chance auf Wahrheit, die er je in Händen hielt. Er erinnerte sich an seinen Meister. An dessen Worte. An die Situation damals im fernen Osten. An seine Feigheit. Und doch meinte er es mittlerweile gut mit sich. Er liebte die See, wenn sie auch rau, anstrengend und vom Tode gesäumt war.
Der Jüngling erholte sich, die Tage verrannen und seine Aufgaben brachten ihm gar so etwas wie Freude. Es war die Routine, die ihn vom Wahnsinn auf hoher See, von der Monotonie, der Stille und Sinnlosigkeit bewahrte. Schon bald würde er an Land ankommen. Er spürte es. Und dann war der Weg zu seinem Meister frei.
Er fragte den Fremden, der ihm nicht mehr fremd war, wie er denn nun seinen Meister an Land würde finden können. Und wo er überhaupt hin müsse? In welches ferne Land im fernen Osten er nach ihm suchen musste?
Sein Freund entgegnete ihm: »Du wirst in ein fernes Land mit hoher Kultur, feinen Bräuchen, schönen Frauen und viel Sand reisen. Sehr viel Sand. Deine nächste Prüfung wird es sein, die Wüste zu durchqueren. Wenn du auch das überstehst, wirst du deinen Meister gefunden haben«.
Der Jüngling war nicht zufrieden von dieser Antwort. Er wollte mehr Details wissen. Wie er denn aussähe, sein Meister? Wo er genau hin müsse? Welche Route er einschlagen solle? Und wie er sich ernähren solle?
»Du wirst für alles eine Antwort finden, wenn du da bist. Der Geist eines Menschen mag augenscheinlich so funktionieren, dass dir jeder Schritt bekannt ist. Aber das ist er nicht, mein junger Freund. Eigentlich ist dir gar nichts bekannt. Und wenn du die Wahrheit finden willst, legst du die Torheit ab, zu versuchen, alles zu verstehen. Der Weg zeigt sich, wenn du ihn mit deinen Füßen im sandigen Boden gehst. Er zeigt sich nicht, wenn dir jemand anderes außer dir selbst sagt, was du zu tun hast. Die Menschen sind es gewohnt, einer fremden Autorität mehr Vertrauen zu schenken, als sich selbst. Als ihrem innewohnenden Reichtum an Wissen. Sieh die Männer hier an Bord: Sie alle vertrauen dem Eigner ihr Leben an. Mich eingeschlossen. Willst du deine Wahrheit finden, wirst du lernen müssen, der Stimme des Herzens zu folgen. Sie ist dein Kompass. Sie ist die Navigation die du suchst. Mehr kann ich dir wahrhaft nicht sagen. Und wenn du mich noch weiter mit Fragen löcherst, werfe ich dich eigenhändig über Bord«.
Der Schäfersohn ward beeindruckt von der Tiefe und den Worten seines Gegenübers. Noch immer drauf und dran, weitere Fragen zu stellen, erkannte er, dass er auf sich alleine gestellt war, wollte er wirklich die Wahrheit und seine Antworten finden.
Eine Zeit später
Ich kann nicht mehr. Mitten in der Sonne der Wüste brach er zusammen. Seit Wochen durchwanderte er die Wüste. Er verstand die Sprache nicht, die die Menschen im fernen Osten, im Land mit der tiefen Sonne, den Gewürzen, den Leinen und Tüchern und dem vielen Sand sprachen. Doch verstand er genau, dass ihn jeder, den er traf davor warnte, weiterzugehen. Die Wüste zu durchqueren, ohne Kamel, ohne ausreichende Wasservorräte, ohne einen erfahrenen Mann der Wüste — er würde schneller sterben, als die Sonne am Himmel den Mittag erreichte.
Seine Entschlossenheit brachte ihn bis in die Mitte der Wüste. In die Mitte der Verzweiflung. In die Ohnmacht ohne Umkehr. In den Wahnsinn seiner eigenen Gedanken, die ihn zur Umkehr überreden wollten. Alles in ihm wollte, dass er zurückging in die letzte Stadt, die er kürzlich noch mehr tot als lebendig erreichte. Er musste sich eine Woche erholen und fand Heimat bei einer Familie, deren Worte er nicht verstand, aber deren Wasser und Nahrung ihn am Leben hielten. Sie wollten ihn begleiten, doch er lehnte ab. Er wollte nicht, dass sie ihr Leben genauso töricht wie er riskierte. Sie waren eine Familie und er hätte nicht verantworten können, dass einer von ihnen nicht würde wieder zurückkehren an seinen angestammten Platz.
Nun lag er da. Er war im Begriff zu sterben. Zusammengekauert inmitten einer kleinen Mulde. Er musste von einer Düne gefallen sein. Das war es also. Dies brachte ihm seine Suche nach der Wahrheit. Nun verstand er alle Warnungen des Fremden auf dem Schiff, der sein Freund wurde. Er musste ähnliches erlebt haben. Warum starb er für eine Wahrheit und einen Meister, von dem er nicht einmal sicher wusste, dass sie existieren? Warum konnte er nicht einfach der Schäfersohn sein, der in seinem kleinen Dorf eine Frau finden, Kinder in die Welt setzen und Ziegenkäse wie Generationen vor ihm herstellen würde? Warum war er nur so töricht und von Neugier zerfressen, dass er nun dafür in dieser Wüste starb? Hätte er bloß niemals eines dieser Bücher in die Hände bekommen. Er könnte ein glückliches und einfaches Leben führen. Wie alle anderen Menschen…
Da erreichte ihn ein Schatten. Er musste eingeschlafen sein. Als er seine Augen öffnete, kniete jemand über ihm. Ein Beduine. Die Augen zu einem Schlitz, alles andere unter seinen feinen Leintüchern. Er sah reich aus. Gebildet. Er war bildschön. Seine Ausstrahlung fühlte sich an wie ein arabischer Teppich aus der feinsten Manufaktur. Er hob den Kopf des im Sterben befindlichen Jünglings aus der Ferne und flößte ihm Wasser ein. Erst erschrak der junge Mann, verschluckte sich heftig. Dann trank er die ganze Flasche in einem Zug.
Neben dem Mann stand ein Kamel. Es war ein majestätisches Tier mit feinem Teppich auf sich. Daran waren Taschen mit allerhand Materialien, Nahrung, Wasser und einem großen Dolch. Das Kamel war genauso stattlich wie sein Besitzer.
»Nun erhebe dich, Junge«. Wenn dir dein Leben auch nur eine Silbermünze wert ist, musst du aus der Sonne.« Wir müssen das Lager erreichen, ehe die Nacht hereinbricht. Sonst sterben wir beide heute Nacht in dieser Wüste. Und ich gedenke nicht, heute Nacht zu sterben. Er half ihm auf und wuchtete ihn auf das Kamel. Irgendwie gelang es dem Jüngling, sich auf dem Kamel zu halten. Er spürte, dass seine Chancen zum Überleben bei 50:50 standen. Wenn er Glück hatte. Vom Weg ins Lager bekam er nichts mit. Mehr tot als lebendig kam er dort an.
Es vergingen Stunden, womöglich Tage. Der Schäfersohn wusste es nicht genau. Nur, dass er sich ständig übergeben musste. Er hatte einen Hitzschlag erlitten. Diesmal einen solchen, der einem das Leben kosten konnte. Aber das tat es nicht. Als er wieder zu sich kam, nahm er den Stoff eines feinen Zeltes wahr. Und einen Teppich, der so weich war, wie noch kein Teppich je zuvor. Er schlief auf selbigem und fand neben sich Wasser und ein Stück Brot, das er gierig verschlang. Im nächsten Augenblick betrat ein wunderschönes Mädchen sein Zelt. Sie war vielleicht so alt wie er und ihr Antlitz versetzte seinem Herzen beinahe den nächsten Herzinfarkt. Würde er so weitermachen, wäre seine Suche nach Wahrheit demnächst sinnlos. Sie sagte kein Wort, blickte ihm nur aus ihren braunen Augen tief in seine. Er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Diesmal nicht von der Hitze. So schnell sie das Zelt betrat, um nach ihm zu sehen, so schnell war sie wieder fort.
Sein Meister, der Mann, der ihm das Leben gerettet und ihn in dieses Lager brachte, erschien dafür im nächsten Augenblick. »Nie habe ich einen törichteren Jungen erlebt als dich. Was gedachtest du, in dieser Wüste zu tun? Meine Ahnen leben seit Jahrtausenden in dieser Wüste. Doch niemand wäre von Sinnen genug, in der Sonne des Mittags durch sie zu wandern. Mein Falke entdeckte dich. Er trug mir zu, dass du dort gerade dabei warst zu sterben. Dich zu erreichen kostete mich drei volle Tage. Nun, sage mir, Jüngling, was sind deine Pläne, außer dein Leben auf schnellstmöglichem Wege zu beenden?«.
Der Schäfersohn ward tief beeindruckt von der Aura des Mannes, der ihm das Leben gerettet und ihn in dieses Lager gebracht hat. Und von seiner Wortgewandtheit. Er war belesen, das spürte er sofort. Mit zittriger Stimme, war das Einzige, was er von sich brachte, dass er seinen Meister suchen und seine Wahrheit finden müsse.
»Wie kommst du darauf, deinen Meister in dieser Wüste zu finden?«, wollte sein Retter wissen.
»Auf dem Schiff sagte mir ein Vertrauter, ich müsse diese Wüste durchqueren, um ihn zu finden. Und dass ich mein Leben dafür würde riskieren müssen«.
»Nun, letzteres hast du offensichtlich erledigt. Wie kommst du darauf, deinen Meister hinter dieser Wüste zu finden? Und von welcher Wahrheit, sprichst du, die du da suchst?«. Der Meister erkannte seinen Schüler längst. Er wusste, dass sein Herz rein und sein Wille fest war. Er spürte, dass dieser blasse Jüngling das Potential besaß, die Wahrheit zu finden, nach der er suchte. Er selbst fand sie ebenfalls dadurch, dass er sein Leben riskierte, alles hinter sich ließ und sich auf die Führung des Lebens einließ. Heute war er der Stammesführer. Derjenige, der nur dann selbst aufbrach, wenn ein Jüngling es wirklich verdiente. Dieses Lager war wie das Tor in eine andere Welt. Doch das sollte der Schäfersohn noch früh genug erfahren.
»Ich… weiß nicht. Irgendetwas in mir sagte mir, dass mein Vertrauter auf dem Schiff recht hatte. Ich fragte alle Menschen, die ich finden konnte. Doch niemand sprach meine Sprache. Nur eine Sucherin aus einem noch ferneren Land als diesem verstand mich. Sie stattete mich mit dem Notwendigsten aus und zeigte mir die Richtung, in der ich die verlassene Stadt fand. Dort erholte ich mich einige Zeit und brach auf, um diese Wüste zu durchqueren. Denn sie steht zwischen mir, meinem Meister und der Wahrheit, die mein Herz anstrebt«.
»Es besteht kein Zweifel, dass du mutig genug bist, dein Leben zu riskieren, um die Wahrheit zu finden. Du wirst deine Schuld bei mir abtragen, indem du dich nützlich machst. Meine Tochter wird dir alles zeigen«. Mit diesem Satz verabschiedete sich der Meister und überließ den Jüngling seinen Fragen. Die Tochter erschien. Es war ihre Schönheit, die wiederum aus ihrer Aura sprach, die ihn sprachlos machte. Sie machte ihn mit seinen Aufgaben vertraut.
In den nächsten Tagen erledigte er diese mit Gewissenhaftigkeit, ohne den Meister erneut zu sprechen oder auch nur zu sehen. Er musste sich körperlich erholen, das wusste er. Und sobald seine Schuld abgearbeitet war, würde er das Lager verlassen, diese Wüste durchqueren und seinen Meister und seine Wahrheit finden. Er ahnte nicht, dass er seinem Meister längst begegnet war.
Die Tage vergingen, die Sonnen verrannen am heißen Wüstenhimmel und eines Tages fühlte er sich so weit, wieder aufzubrechen. Er war gerade dabei, seine wenigen Habseligkeiten für einen Aufbruch im Morgengrauen des nächsten Tages vorzubereiten, als der Meister, jener, der ihn vor dem sicheren Tod in der Wüste gerettet hatte, sein Zelt betrat.
»Wo wollt ihr hin, junger Freund?«, fragte er ihn. »Ich danke euch von Herzen, dass ihr mir das Leben erretet habt. Nun ist meine Zeit gekommen, meinen Meister und meine Wahrheit zu finden. Sagt, wie durchquere ich diese Wüste als lebendiger Körper? Nahe daran, ein Toter zu sein, war ich bereits«, sagte der Schäfersohn. »Was erhoffst du dir als Wahrheit von deinem Meister zu hören? Wahrheiten gibt es viele. Welche davon suchst du?«
»Ich bin auf der Suche nach der einen Wahrheit. Der Wahrheit, die hinter dem Leben steckt. Der Grund, weshalb es mich gibt, die Menschen, die Erde und was der Sinn dahinter ist. Ich las von allen großen Philosophen, doch mein Herz mahnte mich, mich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben. Diese Suche kostete mich fast mein Leben. Aber nur fast. Ich fühle mich nun bereit, sie zu erfahren. Mein Herz ist rein und mein Geist frei von Frevel«.
»Nun, gewiss hat dich deine von Torheit geleitete Reise auf die Wahrheit vorbereitet. Als ich meine Wahrheit fand, war ich ebenso wie du, wie die allermeisten Menschen, mehr dem Tode als lebendig«, sagte der Meister.
Der Schäfersohn hielt inne. Langsam dämmerte ihm, was er gerade vernommen hatte. Er drehte sich um und setzte sich auf den von Heu und Schaaffellen bedeckten Boden und sah den Meister direkt in seine Augen. »Du sprichst von deiner Wahrheit. Ist es… die Wahrheit, nach der auch ich mein Herz ausgerichtet habe?«. Seine Stimme zitterte. »Nun, ich kann nur von meiner Wahrheit sprechen, denn Teil der Wahrheit ist, dass es keine Wahrheit gibt, der einer anderen gleicht. Und doch fußt meine Wahrheit auf den Urprinzipien aller Wahrheiten«.
»Wie meint ihr das, das Urprinzip aller Wahrheiten? Also verstehe ich euch recht, wenn ihr behauptet, es gäbe eine Urwahrheit und jeder Mensch bilde daraus seine eigenen Wahrheiten?«.
»Gewiss«, entgegnete ihm der Meister. »Nur, wer reinen Herzens ist, frei vom Gespött des alltäglichen Lebens, und seine Nase in mehr als ein Buch gesteckt hat, ist in der Lage, dies zu verstehen«.
»Aber was ist dann das Urprinzip, was ist die Urwahrheit, die allen anderen Wahrheiten zugrunde liegt?«
»Ich habe dich kommen sehen. Wahrheitskenner wissen, wenn ein Wahrheitssucher zu ihnen kommt. Die Falken am Himmel verrieten mir deinen Standort. Sie sagten mir, dass du nicht würdest die nächsten Stunden überleben. Ich sah, was geschehen würde, bereits drei Tage zuvor. Also hatte ich genug Zeit das Lager zu verlassen und dich zu suchen«.
»Aber… wie ist das möglich? Wie konntet ihr mit den Falken sprechen? Wie wusstet ihr, dass ich dort sein würde und wo ich mich befände?«, fragte der Schäfersohn. Er hatte Gänsehaut am ganzen Körper und fühlte sich so lebendig wie nie zuvor in seinem Leben. Er wusste, er war der Wahrheit, für die er sein Leben nicht nur einmal riskiert hatte, sehr nahe.
»Wenn du das verstehst, mein Sohn, verstehst du auch die Ur-Wahrheit. Ruhe dich aus. Entscheide, ob es sich lohnt, deinen Meister in der Fremde zu suchen, oder ob du ihn die ganze Zeit bereits bei dir hattest. Falls du dich entscheidest, im Morgengrauen noch hier zu sein, werde ich dich wiedersehen. Falls du dich entschließt aufzubrechen, wünsche ich dir viel Glück. Die Falken haben mir bereits mitgeteilt, was mit dir geschehen würde, wenn du aufbrechen würdest. Ein weiteres Mal werde ich dich nicht erretten können, selbst wenn dies mein Herz begehren würde«.
Der Meister erhob sich und verließ das Zelt.
Ratlos saß der Schäfersohn da. Was sollte er jetzt tun? Sollte er seinem ursprünglichen Ruf folgen oder sollte er beim Meister des Lagers bleiben? War er am Ende der Meister, den er begehrte? Besaß nicht er die Weisheit, den Anmut und die Liebe, die er von einem Meister erwarten würde? Aber was, wenn es noch einen weiteren Meister gäbe? Was, wenn er ihn verpassen würde, nur weil er feige wurde? Er hatte schließlich bis hierhin überlebt. Er würde auch diese Wüste überleben.
Als er des Denkens müde wurde, schlief er ein. Mitten des Nächtens erwachte er aus einem Traum, der ihm den Tod von sich selbst zeigte. Schweißgebadet erhob er sich. Er musste an die frische Luft. Also warf er sein Schaaffell und weitere Decken über und verließ das Zelt. Draußen war es die Finsternis der Wüste, gebadet im hellen Mondschein eines sich anbahnenden Vollmondes, das ihn erwartete. Plötzlich vernahm er ein Geräusch. Es war ein Vogel, zweifelsohne. Ein Falke. Er kreiste direkt über ihm. Krähte und kreischte. Was macht ein Falke in mitten der Nacht über meinem Kopf, dachte sich der Schäfersohn.
Und was hat er mir zu sagen? Ich verstehe seine Worte nicht und er nicht meine. Der Falke drehte und kreischte, krähte und schimpfte. Der Jüngling spürte, dass er mit ihm sprechen wollte. Er versuchte es mit seiner Sprache, doch die erreichte den Falken nicht. Irgendwann ließ er sich auf einem Felsen nieder, der aus dem Sand ragte. Missmutig ob der nicht vorhandenen Kommunikationsmöglichkeit mit dem Falken gab er auf, es zu versuchen. Er saß einfach da und beobachtete die Sterne und den Mond. Einige Minuten später bemerkte er, wie der Falke gelandet war und zu ihm herüber stolzierte. Er setzte sich neben ihn. So saßen sie da - er und der Falke. Keiner von beiden sprach ein Wort, bis plötzlich des Jünglings Verstand meinte, etwas zu verstehen. Er hörte keine Worte, aber er wusste, was der Falke ihm zu sagen hatte. Es brauchte keine Worte. Es brauchte nur Stille in seinem Geist. Er wusste nun, was ihm der Falke mitteilen wollte. Er war ein Gesandter des Himmels, so musste es sein. Er verstand glasklar die Botschaft des Falken. In diesem Moment fand er seine Wahrheit.
Am Morgengrauen machte er sich auf den Weg, den Meister zu treffen. Alles veränderte sich und doch blieb alles gleich. Er war noch immer der Schäfersohn inmitten der Wüste. Sein Meister saß auf einer Anhöhe unweit seines Zeltes, in Stille gehüllt. Der Jüngling setzte sich neben ihn, ohne ein Wort zu sprechen. Am Horizont wurde der Mond von der Sonne abgelöst, als er zu sprechen begann: »Ich habe die Wahrheit gefunden. Ich weiß nun die Ur-Wahrheit, die Wahrheit, die allem zugrunde liegt. Der Falke hat es mir gesagt«.
»Nun, da du deine Wahrheit gefunden hast, wirst du zu einem Wissenden, der anderen Suchenden helfen wird. So ist es und so war es schon immer. Dich wird finden, wie deine Hilfe aussieht«.
»Ich werde Schreiben«, entgegnete ihm der Schäfersohn.
»Die Wahrheit darf nicht einfach aufgeschrieben werden. Die Suchenden müssen bereit für sie sein. Die Wahrheit verlangt das Sterben von Toden, die Bereitschaft sein Leben zu riskieren, alles, was einem lieb und teuer ist. Besonders die Errungenschaften der modernen Welt. Du darfst die Wahrheit nicht schlicht niederschreiben. Aber das weißt du, denn wer die Wahrheit verstanden hat, weiß auch dies.«
»Als der Falke zu mir sprach, frei von Worten, frei von Beschränkungen, erlebte ich zum ersten Mal, was wahre Freundschaft bedeutet. Ich dachte nicht, dass ich eine so tiefe Liebe zu einem gefiederten Tier entwickeln könnte. Diese Wahrheit ist es wert, umsorgt, umschrieben zu werden. Ich will ein Schriftsteller sein, der jenen die bereitwillig auf die Wahrheit zusteuern, hilft, sie in sich selbst zu finden. Denn eines habe ich ebenfalls verstanden: Die Wahrheit kann nur jeder selbst finden, und zwar in sich. Ich hätte auch in meinem Heimatdorf zwischen den Schafen meiner Urahnen sitzen können, um sie zu finden«, erklärte der Jüngling, der zu einem Wissenden wurde.
»Nun, deine Reise war es, die deinen Geist erst geöffnet hat. In deiner Einöde zwischen den Schafen, in der Enge der Weltvorstellung der Dorfbewohner, wäre es dir ungleich schwerer gewesen, dich selbst zu treffen. Der Falke war der Beweis, den dein Herz längst nicht mehr brauchte. Aber dein Geist brauchte ihn«.
»Sag, Meister, wenn die Wahrheit ist, dass es nichts gibt, was uns voneinander trennt, dass wir in Wahrheit All-Eins sind, dass wir in Wahrheit allesamt das Gleiche sind, warum nur rauben sich Menschen dann gegenseitig aus oder bringen sich um? Weshalb gibt es all die törichten, niederen Dinge in der Welt?«.
»Dies, mein Sohn, ist Teil einer anderen Wahrheit. Nun, da du die Urwahrheit verstanden hast, wirst du irgendwann auch dies verstehen. Wirst du auf Reisen bleiben, dein Geist geöffnet sein und dein Herz von Reinheit nach Wissen geleitet, wirst du immer wieder einen Meister in dir selbst treffen, der dir alle Antworten geben wird, nach denen du dürstest«.
Der Jüngling, der zum Meister wurde, reiste noch Jahre durch die Welten. Die, die man sehen kann, und die, die man nicht sehen kann. Er bereiste Kontinent für Kontinent und fand im Laufe der Zeit die gesamte Wahrheit. Viele Anhänger klebten an seinen Lippen, denen er genauso viel sagte, wie sie brauchten, um selbst zu ihrem Meister zu werden. Am Ende verstarb er als alter, weiser Mann im Glück der Wahrheit gebadet, umringt von Menschen, die ihn liebten und ehrten, und fand schon bald die nächste Wahrheit — jene, die man erst begreifen kann, wenn das Leben zu Ende ist.
FIN
Dies war Teil zwei der Geschichte, ich hoffe sie hat die Erwartungen, die im ersten Teil womöglich entstanden sind, erfüllt.
Die Hörbuchversionen der Geschichten folgen in Kürze!
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